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ESSEN: DIE KARTOFFELREVOLUTION IST HOFFENTLICH ERST DER ANFANGGewünschte Gewichtszunahme

Der Streit um die Königin der Kartoffeln, die Linda, ist ein Lehrstück aus dem modernen Agrarbusiness: Die Bauern entscheiden schon lange nicht mehr, was auf ihren Äckern wächst. Und die Verbraucher nicht, was auf ihren Tellern landet. Saatgutmultis machen die Speisekarte. Zum Glück ging ein kleiner Aufschrei durch die Republik, als der Lüneburger Züchter Europlant die Kultknolle verbannen wollte. Und wurde erhört. Konsumenten haben Gewicht – mehr als gedacht.

Der Agrokonzern hat die emotionale Bindung der Kunden an Solanum tuberosum unterschätzt. Er machte die Rechnung ohne sie, als er Linda sterben lassen wollte, weil neue Züchtungen größeren Profit versprechen. Die Bürger sammelten sich in Fußgängerzonen, Köche backten Linda-Herzen, Minister outeten sich als Kartoffelliebhaber. Ihr Gemüse bewegt die Deutschen. Und die Knollenrevolution setzt Zeichen – für das Ende des schlechten Geschmacks.

Denn von tausenden bekannten Kartoffelsorten findet sich im Supermarkt ohnehin nur noch ein Bruchteil wieder. Die Sättigungsbeilage hat nur eine Chance, wenn sie dicke Erträge bringt, nicht schnell verdirbt. Wer kennt schon „Reichskanzler“, „Ackersegen“ oder „Bona“. Im Kochtopf: immer das gleiche Einerlei. Bei Gemüse, aber auch beim Obst haben sich die naturgegebenen Aromen längst verflüchtigt – aus wirtschaftlichen Gründen.

Das wird sich auch erst dann ändern, wenn die Retroküche, die derzeit noch vor sich hin köchelt, einen deftigen Schub bekommt. Gastronomen und Gärtner haben die alten Sorten zwar längst wiederentdeckt. Doch noch ist das eine Marktnische. In der allerdings lässt es sich richtig gut leben, denn es mundet: Diejenigen, die mal probiert haben, kommen wieder – wegen des Biers aus Schwarzhafer, dem Schinken vom Bunten Bentheimer Landschwein oder der Suppe aus alten Tomatensorten. Nur: Von dieser neuen alten Vielfalt wissen bislang zu wenige.

Bleibt zu hoffen, dass die Kartoffelrevolution tausende Verbraucher gestärkt hat, dass daraus die Apfel-, Tomaten- oder Bierbewegung wächst. Wer einmal gewonnen hat, dürfte doch auf den Geschmack gekommen sein. HANNA GERSMANN

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