: Ein Land wählt seine Regierung ab
Ob im reichen Bensberg, in der „alternativen“ Kölner Südstadt oder dem Bochumer Arbeiterviertel Wattenscheid – die Stimmung am Wahltag bleibt ungewiss. „So kann es nicht bleiben“, meinen viele
von unseren KorrespondentInnen
10:08 Uhr Bensberg: „Wir bräuchten wieder einen Adenauer oder einen Erhard“, meint eine 81-Jährige. In diesem Wahlkreis, Rheinisch-Bergischer Kreis III um Bergisch Gladbach herum, wohnen die Menschen mit der zweithöchsten Kaufkraft der Republik nach München. Hier haben CDU und FDP bequeme Mehrheiten. Trotzdem, auch wenn‘s schwer fällt, wählen die Frau und ihr Mann heute wieder konservativ, wie jedes Mal. „Verheerender als jetzt kann es nicht mehr werden“, meint ihr 81-jähriger Mann.
11.05 Uhr Kölner Südstadt: Barbara Moritz, die Chefin der Kölner Grünen-Faktion sitzt auf ihrem Balkon. „Hören Sie mal, wie ruhig es ist“, flüstert sie. „Obwohl in diesem Block hunderte von Leuten wohnen.“ In der Kölner Südstadt lässt es sich leben – urban, ohne Verkehrslärm. Es ist eine Hochburg der Grünen in NRW, bei der Landtagswahl 2000 hatten 18 Prozent der Südstädter Grün gewählt. Und diesmal? „Es wird knapp“, sagt Barbara Moritz.
11:35 Uhr Dortmunder Nordstadt: „Wenn wir 50 Prozent Wahlbeteiligung erreichen, gebe ich einen aus“, sagt Frank Feting, Wahlhelfer in der Burgholzschenke. Das Wahllokal in der Dortmunder Nordstadt ist leer, nicht einmal 20 Prozent waren bisher wählen, auch auf der Straße ist von Wahlfieber nichts zu spüren. Jeder zweite Bewohner hier ist Migrant, sonst leben hier noch viele Studenten und „Alternative“. Die Dortmunder Nordstadt ist seit jeher eine SPD-Hochburg, auch die Migranten, die wählen gehen, geben ihre Stimme den Sozialdemokraten.
Aus dem Wahllokal Cafe Lüchtemeier laufen mehrere junge Leute erregt auf die Straße. Sie berichten, dass drinnen über der Theke eine Reichskriegsflagge hängt. 20 Minuten später kommt die Polizei – die Flagge jedoch bleibt da, wo sie ist, sie ist schließlich nicht verboten.
12:10 Uhr Essen-Altendorf: Ein altes Arbeiterviertel neben der ehemaligen Kruppschen Fabrik. Die Hausfrau Ute Hermanns, Mitte 50, will erst nichts sagen. Dann meint sie: „Wenn die Schwatten drankommen, dann aber Gute Nacht!“ Die wählt sie nicht. Die SPD habe hier doch viel gemacht. „Guckense ma, wie viel hier renoviert wird!“ Für einen anderen Passanten ist heute keine Wahl: „Ich geh nicht wählen, die bescheißen doch alle und denken nur an sich.“ Ein Taxifahrer, der schon per Brief gewählt hat, ist ebenso illusionslos. „Der Trog bleibt der gleiche, nur der Schleim ändert sich“, kommentiert er den möglichen Regierungswechsel. Für sich erhofft er nicht mehr viel, denn „ich bin selbst bald Hartz“. Sein Taxibetrieb macht bald dicht. Auf die Grünen ist er sauer, denn „keine Partei hat mich mehr Geld gekostet als die. Die könnten mir ‚ne Taxe schenken, die würd ich nicht nehmen.“
12.15 Uhr Bürgerhaus Pulheim-Sinthern: Der Kandidat ist wortkarg, er kommt gerade mit seiner Frau aus der Kirche. Der Mann ist der Herausforderer von der CDU, es ist Jürgen Rüttgers. Prognosen will er jetzt nicht abgeben, nur: „Meine Stimmung ist wie das Wetter: sonnig.“ Gut 70 Journalisten erwarten die Rüttgers in ihrem Wahllokal. Er macht sein Kreuzchen und wirft den Wahlumschlag ein, die Fotografen balgen sich um die besten Plätze, bringen mit ihrem Gedränge sogar eine Wahlkabine zum Umfallen. Draußen, vor dem Bürgerhaus, herzt der siegessichere Rüttgers ein zweijähriges Kind auf einem Dreirad – schon ganz der Landesvater.
12:30 Uhr Essen-Altenessen: Seit 20 Jahren versuchen hier Stadt und Land den Niedergang zu verhindern. Um eine alte Zeche herum entstanden Reihenhaussiedlungen. Eine junge Familie mit drei Kindern spaziert vorbei, ihre Namen wollen sie nicht nennen. Er sagt, dass er SPD wählt, weil sie einerseits noch sozial gerecht wäre und sich andererseits auch auf die Förderung wirtschaftliche Schwerpunktze konzentriere. „Ich entscheide ganz spontan in der Wahlkabine, wen ich wähle“, sagt seine Frau.
13:03 Uhr Dortmund: Mahbule und Deniz Erguzel sind überzeugte SPD-Wähler. Sie haben seit 1998 die deutsche Staatsbürgerschaft und nehmen ihr Wahlrecht sehr ernst. Sie versuchen, Nichtwähler in ihrer Community zu mobilisieren. „Wir rufen jetzt noch alle an, um den Wechsel zu verhindern.“
13.15 Uhr Herne: Im bewölkten Himmel kreist eines der sechs von der Bergbau-Gewerkschaft gecharterten Sportflugzeuge. Es zieht ein Banner hinter sich her. „Geht wählen“ steht in roter Schrift auf weißem Grund.
13.30 Uhr Kölner Südstadt: Vor dem „Haus Müller“ füllen sich die Tische. In der milden Frühlingssonne nippt Roseli an ihrem Milchkaffee. Was sie wählt? „Ich darf ja nicht“, sagt sie. „Ich habe nur einen portugiesischen Pass.“ Nach dem Zuwanderungsgesetz hätte sie Anspruch auf einen deutschen. Doch obwohl sie in Köln aufgewachsen ist, hat sie kein Interesse. Dass sie nicht an der Landtagswahl teilnehmen darf, ärgert die 30-Jährige allerdings. „Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund.“
13:45 Uhr Bochum-Wattenscheid: Ein Arbeiterviertel mit dreckigen Hausfassaden. Hier leben viele Migranten und in vier Metern Höhe an den Straßenlaternen hängen NPD-Plakate in schwarz-weiß-rot, den Farben des Kaiserreichs. Darauf wünscht die Rechtspartei einer türkischen Frau mit Einkaufstüte „Gute Heimreise“. In der Günnigfelder Straße 101a ist die Kneipe „Haus Höller“, darüber die Wohnung des NPD-Vorsitzenden Cramer, hier ist die Parteizentrale der Braunen. Unten auf dem Bürgersteig sagt ein Türke mit Schnauzbart, „das sind Spinner, die wählen wir nicht“. Ein junges Päärchen, er mit Manta-Matte und Traningsanzug, steigt in einem uralten VW Polo. „Die SPD kannst du doch auch nicht mehr wählen, Hartz ist scheiße, Mann, hau ab!“, sagt der Mann.
14:05 Uhr Kamen: Hier ist der Wahlkreis von Peer Steinbrück, eine Bergbauregion par excellence. „Die Wahlbeteiligung ist viel höher als bei den letzten Landtagswahlen“, freut sich ein Wahlhelfer. Draußen in einem Café am Marktplatz sitzt der Bergkamener Hans-Wolfgang Alph mit seiner Frau. Beide waren beim Drachenfest und auch schon wählen. Alph ist seit 35 Jahren Mitglied der FDP. „Grundsätzlich sind wir gegen Subventionen“, sagt er, „solange man aber auch im Ausland Arbeitsplätze künstlich am Leben erhält, kommen wir da auch nicht drum herum, dazu fehlt uns ein Kopf, der das durchsetzt, der ist uns ja leider abhanden gekommen“, sagt er, auf Möllemann anspielend.
14:30 Uhr Bonn-Franziskanerstraße: Das Wahllokal des Stimmbezirks 011 ist eines der ungewöhnlichsten der insgsamt 197 Wahllokale, an dem die 217.000 Bonner Wahlberechtigten heute ihre Stimmen abgeben können. Gewählt wird nämlich im Stadtmuseum, in einem Raum des Dokumentationszentrums der „Gedenkstätte für die Bonner Opfer des Nationalsozialismus“. Links neben der Tür hängt eine Leinwand, auf die Schüler die Namen aller Bonner NS-Opfer geschrieben haben. Draußen sitzen zahlreiche Studierende in den Cafés. Gegenüber liegt der Hofgarten, wo gekickt wird. Gewählt werden SPD oder die Grünen. Dass es ausgerechnet die rot-grüne Landesregierung war, die Studiengebühren eingeführt hat, hat ihr nicht unbedingt geschadet. Die seien durchaus „zumutbar“, sagt ein 20-jähriger Student, der die SPD gewählt hat. „Weil die gegen Studiengebühren sind.“ Illusionen macht er sich nicht: „Wahrscheinlich werden die auch die Studiengebühren einführen, nur dauert das bei denen länger.“ Ein 25-Jähriger, der eigentlich FDP wählt, erzählt, als er vom Wählen kommt, dass er sich enthalten hat. Begründung: „Weil die FDP für Studiengebühren ist.“
14:40 Uhr Pulheim-Sinthern: Das bestimmende Ereignis ist hier, dass die Maigesellschaft „Weißer Flieder“ heute zum 70sten Mal ihren traditionellen Umzug abhält. Vor dem Wahllokal sagt ein Familienvater, „Peer Steinbrück soll unbedingt weiter machen, von Rüttgers erwarte ich gar nichts, der hat hier noch nie eine Wahl gewonnen“. Zur SPD, sagt der Mann in Jeans, gebe es keine Alternative.
14:46 Uhr Moitzfeld-Bensberg: Grundkurs Politik. „Politiker vertreten die Leute. Sei entscheiden für uns, was gemacht wird.“ Der junge Mann erklärt zwei Dreiradfahrern die repräsentative Demokratie. „Bist du auch Politiker?“ fragt einer der beiden Kleinen. „Nein, ich bin nur Wähler – und euer Vater, deshalb gehen wir jetzt nach Hause.“
16:10 Düsseldorfer Landtag: Auf der Wiese vor der Rheinpromenade liegen zahlreiche Menschen im Gras. Aus dem Landtag bringen Journalisten das Gerücht mit, die CDU habe 45 Prozent. Es gibt eine kurze Aufregung, Kamerateams rennen hektisch im Landtag hin und her, organisieren Steckdosen und filmen gegenüber, im Apollotheater, da wo später das SPD-Fest sein wird, gehen die Kollegen von der Presse ein und aus. Harald Schartau, Vorsitzender der NRW-SPD, hat sein Sakko ausgezogen und guckt sehr ernst.
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