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kritisch gesehenHeide ist kaum der Rede wert

Sarah Kirschs Tagebuch aus dem Sommer 1990 ist eine Wohltat

Die Leute haben aber auch Ideen! Denken, sie könnten einfach bei einem im Garten zelten, nur weil sie jemanden kennen, der einen kennt. „Ich muss sehr aufpassen, sonst ist der Garten voll“, notiert Sarah Kirsch am 15. April 1990 im Tagebuch. Oft ist sie schon um 6 Uhr früh unterwegs, den Hund ausführen; Luft schnuppern, die Katzen füttern, am Deich mit dem Esel sprechen. Ein paar Zeilen schreiben, aber noch wichtiger: „Erst hole ich mal Koffie.“

1990 wird ein besonderes Jahr: Die Wiedervereinigung kommt, die DDR-Mark wird umgetauscht, in Litauen erheben sich die Menschen, um die Sowjetmacht zu vertreiben, vielleicht wird auf sie geschossen werden, die „Estonia“ sinkt. Kirsch bangt und hofft am Radio, notiert, was ihr durch den Kopf geht, wie das Wetter ist; schimpft über den Unsinn der Anderen, was sie anspornt: „Manche zittern schon deutlich vor mir. Daran muss ich weiterarbeiten.“ Ihr Tagebuch „Der Sommer fängt doch so an“ ist ein wunderbares Buch, frei von Aktualitätsdruck: Man kann es einfach lesen.

Die Lyrikerin hatte 1978 die DDR verlassen, erst in Westberlin, dann bei Rotenburg gewohnt. Nach fünf Jahren findet sie in einem Dorf mit dem sanften Namen Tielenhemme eine neue Heimat. Um die Ecke fließt die Eider, die nächste Stadt ist Heide. Sie ist ihr wenige Worte wert. Aber: In Heide residiert der „Glatzenschneider“! Ihre exakte Frisur ist ja so etwas wie ihr Markenzeichen.

Sie malt neuerdings Aquarelle. Meistens ist sie mit denen einigermaßen zufrieden. Und dann die Welt da draußen: Es gab Nachtfrost, die Narzissen liegen am Boden. Im Mai tiefer Nebel und hustende Kühe. Langsam wird das Land fettgrün.

Manchmal verlässt sie ihr Haus, geht auf Lesereise: „Schon wieder bis nach München – grauenvoll ist es!“ Aber das gibt Geld, auf dem Konto fehlen 12.000 Mark. Einmal fährt sie zum ZDF, soll mitmachen in einem Film über StadtschreiberInnen. Nach Mainz – für zwei Minuten! Wenn sie zurück ist, im Flachland, wo es still ist und unaufgeregt, fällt alles von ihr ab. Tiefes Mitgefühl hat sie für ihren Mann, den „Welfgen“, den Komponisten Wolfgang von Schweinitz, oft auf Tour. Mal wird seine neue Oper gelobt, dann mit Häme überzogen. Was soll man da machen?

Buch Sarah Kirsch: Der Sommer fängt doch so an!, Tagebuch 1990, hg. von Moritz Kirsch, Göttingen, Steidl, 224 S., 24 Euro

Und weiter geht das Leben, sie bricht mit ihrer Freundin Christa Wolf, der Sohn macht den Führerschein, ist mit dem Fahrrad unterwegs zur nächsten Fahrstunde, schlechtes Wetter kennt er nicht. Der Sommer kommt dann doch, er wird ganz hübsch, dann geht er langsam wieder. Und Sarah Kirsch schaut die Herbstnummer vom ­„Literarischen Quartett“: „Grauenvoll“, ihr Urteil; „Ich habe so recht, dass es schon weh tut“, ihr Trost. Und vielleicht haben wir ja Glück und aus ihrem Nachlass erscheint noch ein Tagebuch, das Jahr ist eigentlich egal. Frank Keil

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