50 Jahre Zypern-Teilung: Das Störgeräusch einer Insel
Vor 50 Jahren eskalierte der Zypernkonflikt, die Insel wurde geteilt. Der Großcousin unserer Autorin musste im Krieg kämpfen. Er kehrte nicht zurück.
M eine Großmutter sah die Sendung an einem Dienstag im zypriotischen Fernsehen. Es war ein warmer Aprilnachmittag. Sie saß in ihrem Fernsehsessel, den sie mit Kissen aufpolsterte, kaum einen Meter vom Bildschirm entfernt, den runden Rücken leicht eingedreht. Ich kenne diese Position, so sitzt sie immer da, wenn sie nach dem Mittagessen fernsieht. Manchmal döst sie nach wenigen Minuten weg. Dieses Mal aber sah sie genau hin. Denn der Mann auf dem Bildschirm erzählte, dass sie im Norden von Zypern ein Massengrab gefunden hatten.
Großmutter schrieb mit. Seit sie wegen des Jahrestags der Teilung der Insel im Fernsehen wieder so viel über den Krieg sprechen, schreibt sie ständig mit. Meist in ihren alten Kalender mit blauem Kunststoffeinband. Wenn es schnell gehen muss, auch auf die Pappverpackung ihres Cholesterinsenkers.
Dieses Mal notierte sie Datum und Uhrzeit, den Namen der Sendung. Sie merkte sich, dass 13 zypriotische Soldaten verscharrt worden waren, dass zwei von ihnen schon identifiziert werden konnten, dass die Nummer der Einheit, der die Soldaten angehört hatten, 286 lautete. Vielleicht, dachte Großmutter, würden sie ja auch ihren Neffen Pavlos finden. Doch es war die falsche Nummer. Pavlos Neocleous war Teil der Einheit 226, als er vor 50 Jahren verschwand.
In diesem Jahr ist die Zypernteilung ein halbes Jahrhundert her. Am 20. Juli 1974 legten im Morgengrauen türkische Kriegsschiffe in der Hafenstadt Kyrenia an. Wenige Tage zuvor hatte die griechische Militärjunta die zypriotische Regierung gestürzt. Am 14. August weitete die Türkei die Invasion aus, besetzte den Norden der Insel, fast 40 Prozent ihrer Fläche. 5.000 Menschen wurden getötet. 162.000 griechische Zyprioten flohen in den Süden, 48.000 türkische Zyprioten in den nun türkisch kontrollierten Norden. Seither trennt eine Demarkationslinie die beiden Gruppen: die Republik Zypern im Süden und die international nicht anerkannte Türkische Republik Nordzypern.
Noch immer sind um die 800 Soldaten der Vereinten Nationen in der Pufferzone stationiert. Zum 50. Jahrestag der Invasion reiste der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Juli nach Nordzypern, um zu feiern, während die zypriotische Regierung im Süden trauerte.
Der Krieg von 1974 hat auf Zypern so etwas wie einen eigenen Slogan: „Den Xehno“ – „Ich vergesse nicht“. Jedes Jahr geistert er wieder durch Diskussionsrunden im Fernsehen und durch die sozialen Netzwerke. Auch ich habe früh verstanden, dass er wichtig ist; dass da etwas ist, was ich nicht vergessen darf. Seit ich denken kann, fliegen wir jedes Jahr zu meiner Großmutter ins Dorf Kalavasos im Süden Zyperns: meine zypriotische Mutter, mein Ruhrpottvater, mein kleiner Bruder und ich. Als Kind habe ich die Spuren des Kriegs in Kalavasos nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Jetzt, wo ich fast 30 bin, sehe ich sie klar.
Da ist die Gedenktafel für den in jenem Sommer verschwundenen Pavlos. Da ist das kleine Schild über der Haustür meines Patenonkels, mit dem Namen seiner verlorenen Heimat im Norden Zyperns. Da sind die verlassenen Grundstücke türkischer Zyprioten. Der Zypernkonflikt ist auf der Insel präsent wie ein Störgeräusch, das man oft beiseiteschieben, aber nie ganz aus dem Ohr schütteln kann.
Doch jetzt, nach 50 Jahren, schreibt meine Großmutter vor dem Fernseher plötzlich mit. Und ich, die ich mein Leben in Deutschland und meine Ferien auf Zypern verbracht habe, frage mich: Wie prägt ein Konflikt eine Familie über mehrere Generationen hinweg? Wie leben Erinnerungen in ihr fort, die im kollektiven Gedächtnis Jahr für Jahr weiter verblassen?
DieGroßmutter
Kalavasos ist ein kleines Dorf, in dem zwei Spitzen in den Himmel ragen: ein Kirchturm und ein Minarett. Von der Terrasse meiner Großmutter sieht man beide, sie liegen keine 300 Meter voneinander entfernt. Die Kirchenglocken läuten jeden Sonntag. Das Minarett ist gesperrt. Es hausen Tauben darin. Kalavasos liegt nahe der Südküste Zyperns, eingebettet zwischen Hügeln, zehn Autominuten entfernt vom Meer. Rund 900 Menschen leben hier, darunter meine Großmutter, meine Patentante und mein Patenonkel, die ich für diesen Text besucht habe. Meine Patentante Christina ist eine Cousine meiner Mutter, ihr Mann Artemis ist mein angeheirateter Patenonkel. Sie sind Teil der weitverzweigten Familie Neocleous.
Lange Zeit war Kalavasos ein gemischtes Dorf, 1960 lebten hier 881 griechische und 243 türkische Zyprioten. 1976, zwei Jahre nach dem Krieg, waren es laut Dorfchronik 870 griechische und null türkische Zyprioten. Dafür waren Geflüchtete aus dem besetzten Norden gekommen. Sie lebten in verlassenen türkischen Häusern und Ferienwohnungen. Heute ist Kalavasos vor allem ein Urlaubsort.
Großmutter hat all diese Metamorphosen des Dorfes erlebt. Wir nennen sie „Giagia“, griechisch für Großmutter. Eigentlich heißt sie Ioanna, geboren wurde sie 1933, als Zypern noch unter der Kolonialherrschaft der Briten stand, die 1878 nach Zypern kamen. Das Dorf hat Großmutter nie verlassen. Als die Zyprioten in den 1950er Jahren bewaffnet gegen die britischen Kolonialherren kämpften, durchsuchten britische Soldaten ihr Haus und schlugen ihren Bruder zusammen. Als die türkischen Zyprioten in den 1960er Jahren Kalavasos verließen, waren einige Nachbarn plötzlich nicht mehr da.
Nachdem die griechische Militärjunta 1974 im Radio verkündete, dass sie die zypriotische Regierung aus dem Amt geputscht hatte, lief Großmutter hinauf zum Schlafzimmer ihrer Töchter. „Egine praksikopima!“, rief sie. „Es gab einen Putsch!“ Die drei Mädchen, darunter meine zehn Jahre alte Mutter, lagen noch im Bett. Sie hatten keine Ahnung, was das sein soll, ein pra-ksi-ko-pi-ma. Sie verstanden nicht, dass das, was das Radio gerade verkündet hatte, der Anfang vom Ende eines geeinten Zyperns war.
Während meines Besuchs taucht Großmutter einen Löffel in die Schüssel mit dem Hackfleisch. Sie hat es mit Reis und Tomate gemischt, mit Zwiebeln, Petersilie und Gewürzen. Jetzt gibt sie einen Klecks in die Mitte des Weinblatts, faltet die Spitzen über dem Hackfleisch zusammen und rollt. In der Bewegung liegt die Routine von Jahrzehnten.
Großmutter gibt Anweisungen. „Nicht zu viel! Nicht zu wenig! Drück das Weinblatt stärker zusammen!“ Draußen knallt die Sonne, Hitze kriecht durch die Ritzen des Küchenfensters.
„Wir hatten keine Probleme mit den türkischen Zyprioten“, sagt Großmutter, während sie Weinblatt für Weinblatt rollt. „Wir haben hier ja gemeinsam gelebt.“ Ein Dorf. Eines mit verschiedenen Schulen und verschiedenen Gotteshäusern, aber eben doch ein Dorf. Wenn Ramadan war, liefen die christlichen Kinder hinauf zur Moschee und bekamen Bonbons. Wenn Ostern war, stießen die muslimischen mit den christlichen Kindern rot gefärbte Eier aneinander. Wessen Ei heil bleibt, gewinnt. Den Brauch gibt es bis heute.
„Wie geht noch gleich die Geschichte mit dem Zementei, Giagia?“, frage ich.
„Dein Großonkel hat es irgendwie geschafft, ein Ei auszuhöhlen und Zement hineinzugießen. Frag mich nicht, wie er es gemacht hat! Aber er hat Zement reingefüllt und es rot angemalt.“ Einer der muslimischen Jungen aus der Nachbarschaft konnte nicht glauben, was das Ei für Wunder vollbrachte. Wo hast du dieses Zementei gefunden?, fragte er ungläubig. „Dein Großonkel sagte: ‚Das hat meine Henne gelegt‘“, erzählt meine Großmutter. In den Geschichten aus der Kindheit meiner Großeltern tauchen die türkischen Kinder immer wieder auf. Bis sie irgendwann verschwinden.
Die türkische Minderheit war mit der osmanischen Herrschaft ab 1571 nach Zypern gekommen. Als Zypern im späten 19. Jahrhundert britische Kolonie wurde, hatten beide Volksgruppen schon etwa 300 Jahre gemeinsam auf der Insel gelebt. Die türkischen Zyprioten sprachen meist auch Griechisch, mit dem schweren zypriotischen Dialekt, den Festlandgriechen so schwer verstehen. Doch der Unabhängigkeitskampf der Zyprioten gegen die Briten trieb einen Keil zwischen beide Volksgruppen.
Viele griechische Zyprioten forderten den Anschluss der Insel an Griechenland. Türkische Zyprioten lehnten das ab, sie fürchteten Diskriminierung. Die Briten setzten daraufhin nur türkische Zyprioten als Hilfspolizisten gegen die bewaffneten griechisch-zypriotischen Widerstandskämpfer ein. Bald schon bekämpften sich Nationalisten beider Lager. Auch die zypriotische Unabhängigkeit im Jahr 1960 konnte die Lage nicht mehr entspannen. In den Jahren 1963 bis 1964 eskalierte die Gewalt zwischen beiden Volksgruppen zum Bürgerkrieg. Rund 350 türkische und 200 griechische Zyprioten starben, viele von ihnen unbeteiligte Frauen, Kinder, Alte. Die türkischen Zyprioten zogen aus den gemischten Dörfern in Enklaven. Auch aus Kalavasos.
Es ist schwierig, im Dorf jemanden zu finden, der sich erinnern kann, wann genau das war. Die einen waren damals zu jung. Die anderen sind heute zu alt.
„Wann sind sie 1963 genau gegangen, Giagia?“, frage ich. „Oh, das weiß ich nicht mehr“, sagt sie. Und dann: „Das war im Sommer.“ „War Mama schon auf der Welt?“, frage ich. „Ja, das war sie“, sagt Großmutter.
Aber meine Mutter wurde im Herbst geboren.
„Meintest du den Krieg? Dass er im Sommer war?“, frage ich. „Ja, das war der Krieg“, sagt sie.
Sie hat die beiden Daten verwechselt. 1963 und 1974.
Großmutter gehört zu den Letzten, die sich noch an die alten gemischten Dörfer erinnern. An das Zusammensein, Bonbons am Minarett, Ostereier voller Zement, gemeinsames Backen. Aber auch ihre Erinnerungen sind brüchig geworden. Sie sind ausgefranst, ausgebleicht, und manchmal sind sie einfach nicht mehr da. Doch es gibt auch Dinge, die weiß Großmutter noch sehr genau.
„Die zweite Invasion war im August“, sagt sie. „Das weiß ich. Denn am 14. August 1974 ist Pavlos verschwunden.“
Eigentlich hätte Pavlos Neocleous im Juli 1974 seinen letzten Tag beim zypriotischen Militär gehabt. Er war gerade 19 Jahre alt geworden, und im September wollte er nach London gehen, Ingenieurwesen studieren. Er wollte dort im Fish-and-Chips-Laden eines Onkels nebenher ein bisschen Geld verdienen und die kleine Wohnung über dem Laden mit seinem Bruder teilen. „Ich freue mich, wenn du kommst“, schrieb ihm dieser, in einem Brief aus London. So erinnert sein Onkel sich. „Mach dir keine Sorgen wegen der Sprache, die wirst du schon nebenbei lernen.“
Pavlos war ein junger Mann, der immer in Bewegung blieb. Der immer Ferienjobs annahm, um eigenes Geld zu verdienen, der Volleyball spielte und schwimmen ging. Als sein großer Bruder sich in eine Freundin von Pavlos verliebte, stellte er ihr die heimlichen Liebesbriefe zu. Auf Fotos von damals trägt er Anzug mit bunter Krawatte, getönte Brille und ein leichtes Lächeln.
Als er nur noch wenige Wochen Wehrdienst vor sich hatte, kaufte sich Pavlos ein Maßband. Pavlos’ Mutter und meine Großmutter erinnern sich noch daran. Er zählte in Zentimetern ab, wie viele Tage ihm noch blieben. Jeden Tag wollte er einen Zentimeter abschneiden, bis zu seiner Entlassung. So, wie es bei Soldaten Brauch ist. Doch an jenem Tag im Juli wurde niemand entlassen. Kurz vor Tagesanbruch legten die ersten türkischen Schiffe in Kyrenia an. Pavlos musste bleiben und kämpfen.
Einmal noch kehrte er nach Kalavasos zurück. Mit den Türken war im August ein Waffenstillstand vereinbart worden, der griechische Putsch längst gescheitert. Pavlos drehte eine Runde durch das Dorf, um Großmutter und die anderen Verwandten zu besuchen. Seine Cousinen, die draußen gespielt hatten, hefteten sich an seine Fersen, eskortierten ihn von Haus zu Haus. Meine Mutter war unter ihnen. Sie weiß noch, wie aufgeregt sie waren. Dass sie Fragen hatten.
„Was machst du im Krieg?“
„Wie ist so eine Schlacht?“
„Habt ihr andere Soldaten getötet?“
Aber Pavlos blieb still. Der Junge, der sich immer Zeit für seine kleinen Cousinen genommen hatte, wollte nicht über den Krieg sprechen. Schon am nächsten Morgen kehrte er zurück zum Militär.
Am 14. August 1974 griff die türkische Armee erneut an. Dieses Mal kämpfte sie sich weit in den Süden vor. Pavlos’ Einheit wurde als Verstärkung zum Dorf Palaikythro geschickt, östlich der Hauptstadt Nikosia. In diesem Teil der Insel ist das Land weit, flach und karg. Im August knallt die Sonne dort ungehemmt auf staubige Felder. Ein Soldat auf dieser Ebene kann weit blicken. Ein Soldat auf einem Panzer noch weiter. Noch am selben Tag hörte die Familie in Kalavasos im Radio, dass die türkische Armee Palaikythro erreicht hatte. Von Pavlos hörte sie nichts.
Mein Patenonkel Artemis
Meine Patentante Christina hat gebacken. Sie stellt einen Teller Flaounes auf den Tisch auf der Veranda, traditionelles zypriotisches Gebäck. Außen ein mit Sesam bestreuter Teigmantel, innen die Füllung aus Käse und Ei. Manche Zyprioten backen sie mit Rosinen, andere ohne.
Früher dachte ich, die Diskussion darüber, welche Variante nun die bessere ist, sei so künstlich wie die über Ananas auf der Pizza. Da wusste ich noch nicht, dass sie Flaounes im Süden Zyperns traditionell salzig backen, ohne Rosinen. Und dass Flaounes aus dem Norden der Insel traditionell süß sind, mit Rosinen. Familien, die ihre Flaounes süß essen, sind häufig Flüchtlingsfamilien.
„Meine Mutter backt Flaounes so süß, dass sie eigentlich mehr ein Kuchen sind“, sagt Christinas Ehemann, mein Patenonkel Artemis, als er sich zu uns setzt.
Artemis und Pavlos haben sich nie kennengelernt. Beide waren auf sehr unterschiedliche Weise vom Krieg betroffen: Als der 19-jährige Pavlos Neocleous 1974 mit der zypriotischen Armee in Richtung Norden zog, bewegte sich Artemis Kontara in die entgegengesetzte Richtung. Er war auf der Flucht.
Als er die Flugzeuge am Himmel sah, war Artemis neun Jahre alt. Er stand auf einem Feld außerhalb seines Heimatdorfes Milia im Norden von Zypern und hütete die Schafe. Sein Vater war bei ihm, seine Schwester, ein Onkel. Die Flugzeuge flogen tiefer, als Artemis es kannte. Er und seine Schwester rissen die Hände in die Höhe und winkten. Dann stellten die Erwachsenen das Radio an und verstanden, dass die Flugzeuge gekommen waren, um sie anzugreifen.
Am nächsten Tag hörten sie in der Ferne die Explosionen. Auf dem Weg zum Bus, der die Menschen in Milia fort von den Kämpfen bringen sollte, drückten sie sich an Häuserwände, damit die Kampfpiloten sie nicht sahen. Bloß Artemis, seine Mutter und die jungen Geschwister kamen mit. Sein Vater blieb im Dorf, beim Haus und den Tieren. Taschen hatten sie keine gepackt. Niemand von ihnen konnte sich vorstellen, dass sie ihr Dorf gerade für immer verließen.
„Wir sind einfach eingestiegen“, sagt Artemis Kontara heute. „Wir haben nicht verstanden, dass Krieg ist. Dass wir in Gefahr sind.“
Nach der überstürzten Flucht schlief Artemis mit anderen Vertriebenen in einem Innenhof, eine halbe Stunde südlich von Milia. Dann kam die zweite Welle der Invasion. Ein Lkw brachte die Flüchtlinge auf das Gelände der britischen Militärbasis Dhekelia im Nordosten Zyperns, mitten in den Wald. Dort stieß auch Artemis’ Vater wieder zu ihnen. Wochen später zogen sie weiter in ein Flüchtlingscamp. Mal waren es zypriotische Soldaten, die Essen brachten, mal Dorfbewohner, mal die Vereinten Nationen. Drei Monate lang lebten sie im Camp. Bis der Winter kam und sie auf die Farm von Verwandten ziehen konnten. Für eine Weile.
Die Flucht riss das Leben meines Patenonkels entzwei. Das Haus, das Land und die Tiere verschwanden hinter einer schwer gesicherten Waffenstillstandslinie. Es würde Jahre dauern, bis sie nach etlichen Übergangsbleiben, Schulen und Gelegenheitsjobs neue Wurzeln schlagen würden. In Zygi, an der Südküste Zyperns. Nur zehn Autominuten von Kalavasos entfernt.
Über der Tür von Artemis und Christinas Haus in Kalavasos hängt heute ein kleines Schild. Auf der linken Seite prangt das ausgeblichene Foto einer Kirche. „MILIA AMMOCHOSTOU, DEN XEHNO“ steht darauf in blauen, griechischen Großbuchstaben. Milia Ammochostou, ich vergesse nicht. Milia Ammochostou, das Dorf, das Artemis nach seiner Flucht über Jahrzehnte nicht wiedersehen würde.
Seit 2003 ist die Demarkationslinie zwischen Norden und Süden durchlässig geworden. Seitdem kann man mit gültigem Ausweis über Checkpoints von einer Welt in die andere reisen. Manche tun es, um im Norden in Casinos zu zocken oder zu alten Klöstern zu pilgern. Artemis reiste ein, zwei Jahre nach der Grenzöffnung in sein Heimatdorf Milia.
Die neuen Bewohner hatten das Haus nicht gestrichen. Es fiel Artemis sofort auf, als sie ihn hineinließen. Alles sah noch genau so aus, wie seine Familie es 1974 zurückgelassen hatte. Selbst die Farbe an den Fensterläden war noch dieselbe, abgeblättert und ausgeblichen über die Jahrzehnte. Im Innenhof saß eine türkische Familie. Artemis würde nicht viel mehr über sie erfahren, als dass sie Siedler waren, vom türkischen Festland, keine türkischen Zyprioten. Sie sprachen kein Griechisch. Beide Seiten hatten keine gemeinsame Sprache mehr.
Einmal brachte Artemis auch Christina und seine Kinder nach Milia. Dieses Mal klopften sie nicht. Sie parkten das Auto in der Nähe des Hauses und schauten hinüber. „Gut, dass wir dein Dorf gesehen haben“, habe die jüngste Tochter, damals etwa zehn Jahre alt, danach gesagt, erinnern er und Christina sich. „Aber ich will nicht noch mal herkommen.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Artemis’ Familie ist per Gesetz noch immer Eigentümerin des Hauses in Milia. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Grundsatzurteilen entschieden. Die Vertriebenen haben ein Recht darauf, in ihre Häuser zurückzukehren – und ihnen steht Entschädigung zu, wo das nicht möglich ist.
Ich frage Artemis, ob er sein Haus zurück will. Artemis sieht mich an, als verstehe er die Frage nicht. „Wer von uns soll denn rübergehen? Ich? Meine Kinder?“ Er hat geheiratet, einen Job gefunden, ein Haus gebaut, vier Kinder großgezogen, hier in Kalavasos.
Und drüben, auf der anderen Seite, wohnen jetzt die anderen.
Einmal, im Jahr 2004, gab es ein Fenster für die Wiedervereinigung. Kurz vor dem Beitritt Zyperns zur Europäischen Union stimmten die Zyprioten auf beiden Seiten über den Annan-Plan ab, benannt nach dem damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan. Zypern sollte ein föderaler Staat werden, mit gleichberechtigter Beteiligung von Zyperngriechen und Zyperntürken. 65 Prozent der türkischen Zyprioten stimmten dafür. 76 Prozent der griechischen Zyprioten lehnten den Vorschlag ab. Sie kritisierten zum Beispiel, dass laut Plan zunächst kaum Vertriebene in ihre Häuser hätten zurückkehren dürfen. Seitdem hat es kein neues Referendum gegeben, bloß weitere Urteile des EGMR.
„Ich habe dagegengestimmt“, sagt Christina. „Wenn ich ehrlich bin, hatte ich Angst.“ „Ich habe dafür gestimmt“, sagt Artemis.
Meine Großcousine Eleni
„Natürlich haben wir für den Annan-Plan gestimmt“, sagt Eleni. Eleni ist meine Cousine (zweiten Grades). Pavlos war ihr Onkel, sie ist die Tochter von dessen Bruder Christos. Wir sitzen in ihrem weißen SUV und fahren gen Osten. Eleni ist Mitte vierzig, weinrote Locken umrahmen ihr Gesicht. Immer, wenn Eleni den Wagen in eine Kurve lenkt, klirren die goldenen Reifen an ihren Armen.
Am Morgen hat Eleni eine Versicherung abgeschlossen, damit sie mit ihrem Auto in die besetzten Gebiete fahren darf. Am späten Nachmittag haben wir uns in der zypriotischen Hauptstadt Nikosia getroffen, 45 Minuten von Kalavasos entfernt, Eleni lebt hier. Gemeinsam sind wir aufgebrochen. Wir wollen den Ort im Norden Zyperns finden, an dem Pavlos einst verschwand.
Die Grenze zwischen der Republik Zypern und der Türkischen Republik Nordzypern zieht sich wie eine wulstige Narbe quer über die Insel. An einigen Stellen ist die Pufferzone kilometerlang. In Nikosia aber läuft die Grenze mitten durch die Stadt. Sie könnten einander aus ihren Häusern zuwinken, die Zyprioten auf der einen und auf der anderen Seite. Eleni wird morgens vom Ruf des Muezzins auf der anderen Seite geweckt. Nikosia ist die letzte geteilte Hauptstadt der Welt.
Draußen ist die Welt in gelbbraunes Licht getaucht. Saharastaub liegt in der Luft. Er verwischt die Grenze zwischen Himmel und Land. Eines aber verdeckt er nicht: die gigantische türkisch-zypriotische Flagge, die auf dem Gebirgszug zu unserer Linken prangt, 425 Meter lang und 250 Meter hoch, nachts hell erleuchtet. Wir sehen sie hier genauso wie die Menschen auf der anderen Seite der Grenze in Nikosia. Für die griechischen Zyprioten thront sie über der Hauptstadt wie das Auge Saurons.
„Das war mein erster Kulturschock, als ich nach Nikosia gezogen bin“, sagt Eleni. „In anderen Teilen Zyperns haben wir den Konflikt nicht so bildhaft vor Augen. Ich musste mich daran gewöhnen.“
Eleni Neocleous kam im Jahr 1980 zur Welt, sechs Jahre nach dem Verschwinden ihres Onkels Pavlos. Wenn sie sich erinnert, dann an die Schwere, die über dem Haus ihrer Großeltern in Kalavasos lag, an deren tiefe Traurigkeit. Dass sie bereits als kleines Mädchen wusste, dass hier etwas Schlimmes passiert war, und dass es ihr den Magen zuknotete, trotz aller schönen gemeinsamen Momente.
Schon bald erzählte ihr Vater Eleni, dass ihr Onkel Pavlos im Krieg verschwunden war. Sie begleitete ihn zu Treffen der Angehörigen vermisster Zyprioten, mehrfach im Jahr. Die Familiengeschichte politisierte sie. Eleni schloss sich Initiativen an, in denen sich griechische und türkische Zyprioten gemeinsam für eine Lösung des Konflikts einsetzen. Sie besuchte Kongresse und Weiterbildungen, fand Verbündete und Freundinnen jenseits der Grenze. Der zypriotischen Regierung wirft sie vor, untätig zu sein. Und nicht nur der.
„Die meisten Menschen in meinem Umfeld beschäftigen sich überhaupt nicht mit dem Thema“, sagt sie. „Es ist zu viel Zeit vergangen. Eine Lösung zu finden, hat an Bedeutung verloren.“
Die Kinder der geflüchteten griechischen Zyprioten haben kein Interesse mehr daran, in den Norden Zyperns zurückzukehren. Viele verkaufen ihre Häuser an Türken, Engländer und Franzosen, die sie in Ferienhäuser verwandeln.
Nachdem wir mit Elenis Auto die Grenze passiert haben, fahren wir auf neuen Straßen, vorbei an neuen Häusern. Google Maps korrigiert die alten griechischen Ortsnamen automatisch ins Türkische. Palaikythro beispielsweise nennt die Online-Karte Balikesir. Wenn wir den Ort finden wollen, an dem Pavlos verschwand, müssen wir der neuen Ordnung folgen.
Heute gibt es das Committee on Missing Persons in Cyprus (CMP), das Informationen zu den fast 1.000 noch immer vermissten Zyprioten sammelt. Zu Pavlos gibt es 15 Seiten Informationen. Die Zeugenaussagen seiner Kameraden zeigen, was wohl geschah an jenem 14. August. Seine Kameraden nannten ihn Sergeant Pavlakis, eine Verniedlichungsform seines Vornamens. Dies sind einige gesammelte Aussagen über ihn:
„Vor Palaikythro tauchten türkische Panzer und Personentransporter auf. Als uns klar wurde, dass wir ihnen nicht ausweichen konnten, wurde uns befohlen, uns zu ergeben. Einige zogen ihre Hemden aus, um sich zu ergeben, aber die Türken erschossen sie mit Maschinengewehren, etwa 30 bis 40 Menschen. Sie töteten alle, die sich ergaben, außer zwei Personen, mich und Jimmy K. aus Larnaka.“
„Die Leute, die ich erkannt habe und die sie getötet haben, sind Thomas T. aus Larnaka, Leutnant Priamos, Sergeant Pavlakis aus Kalavasos.“
„Ich sah ihn tot neben mir.“
Das humanitäre Völkerrecht sagt klar: Wenn Soldaten sich ergeben, dürfen sie nicht erschossen werden. Laut den Zeugen wurde Pavlos Opfer eines Kriegsverbrechens.
Bis heute erinnern sich Pavlos’ Geschwister an den Schrei ihrer Mutter, als sie Wochen darauf erfuhr, dass ihr Sohn tot sein könnte. Wie ihr Vater, der nie öffentlich weinte, den Schmerz in sich vergrub und ihr Elternhaus stumm und dunkel wurde. Als die Familie die Weintrauben im Innenhof erntete, ließen sie einige Früchte zurück. Für Pavlos. Falls er doch noch zurückkehren würde.
Lange war es für die Angehörigen unmöglich, nach ihren Vermissten zu suchen. Vor der Öffnung der Checkpoints blieb der Norden für den Süden hinter Barrikaden mit Stacheldraht verborgen. Die Grenzöffnung änderte das. Im Jahr 2005 erhielt das CMP erstmals die Genehmigung, koordiniert nach Toten zu graben und Vermisste zu identifizieren. Und erstmals konnten auch die Familien den Stacheldraht passieren.
Sie fuhren zu viert: Pavlos’ Mutter, Elenis Vater Christos, seine Frau und ihre Schwester. Bis nach Palaikythro und hinaus auf die flache, weite Ebene. Sie hatten Blumen mitgebracht, die sie für Pavlos niederlegen wollten. Bloß wo sie halten sollten, wussten sie nicht. Nichts erinnerte an den Krieg von 1974. Keine Gräber, keine Gedenktafel, keine unscheinbare Markierung.
Irgendwann parkten sie einfach unter einem Baum. Einem Eukalyptusbaum, der in die karge Ebene hineinragte. Dreißig Jahre war es da her, dass Pavlos verschwunden war. Und Pavlos’ Mutter Theodora sprach zum ersten Mal die Worte, mit denen man auf Zypern der Toten gedenkt.
„Aionía tou i mními.“ Möge seine Erinnerung ewig leben.
Eleni und ich stehen heute, rund 20 Jahre später, am Rand von Palaikythro. Wir haben ein Foto eines alten Zeitungsartikels dabei. Darauf zu sehen ist ein großer Eukalyptusbaum mit drei starken Ästen. Darüber steht: „Neues Grab in Palaikythro.“ Nur wenige Monate nachdem Pavlos’ Mutter dort Blumen niederlegte, fanden Archäologen genau an dieser Stelle ein nicht markiertes Massengrab. In meiner Familie fand man es schicksalhaft, dass sie ausgerechnet diesen Ort ausgewählt hatten, wo er wirklich gestorben sein könnte.
Von den 1.510 griechischen und 492 türkischen Zyprioten, die bis 2006 noch vermisst wurden, hat das CMP bislang 1.051 identifiziert. Doch in den vergangenen Jahren ist die Zahl der Funde stark gesunken. Viele der noch unentdeckten Gräber könnten sich unter Neubauten befinden. Manchmal wurden Körper offenbar auch gezielt aus Gräbern fortgeschafft oder ausgetauscht. 2024 konnten bislang nur sieben Vermisste identifiziert werden.
Pavlos haben sie noch immer nicht gefunden.
In Palaikythro beginnt es zu dämmern. Das warme Braun des Staubhimmels verwandelt sich in ein kühles Blau. Eleni lenkt den SUV durch die engen Straßen des Dorfes. Wir sehen alte Häuser aus Stein. Wir sehen neue Häuser, noch im Bau, die sich an die Ränder des alten Dorfkerns schmiegen. Menschen sehen wir kaum, bloß Schemen hinter beleuchteten Türen.
Aus dem kurzen Zeitungsartikel zur Entdeckung des Massengrabs wissen wir, dass es in der Nähe eines türkischen Friedhofs liegen muss. „Aber ich sehe keinen Friedhof“, sage ich. „Sollen wir hier lang?“, fragt Eleni. „Da ist ein Minarett.“
Wir schlängeln uns weiter durch die Gassen. Wo ein Minarett, da eine Moschee, und wo eine Moschee, da der Friedhof. Kurz darauf halten wir am Rand des Dorfes. Zu unserer Linken liegt jetzt tatsächlich ein Friedhof. Die Gräber sind aus weißem Stein, sie sehen alt aus. Vor uns erstrecken sich weite Felder. Doch sie sind nicht mehr so karg, wie sie es früher einmal waren.
Kleine Lichter leuchten in die Dämmerung hinein. Auf den Feldern stehen vereinzelte Hallen mit Dächern aus Wellblech. Landwirtschaft, Großmaschinen, Gewerbe, vermutlich. Es riecht nach Tier und Dünger. Da sind Bäume hier und da, in kleinen Gruppen und allein. Keiner sieht aus wie der Eukalyptus auf dem Foto. Da sind auch keine Spuren einer Ausgrabung, Hinweisschilder, irgendetwas.
Das Palaikythro, das Pavlos sah, gibt es nicht mehr. Das Palaikythro, das Pavlos’ Familie nach der Öffnung der Grenze sah, gibt es auch nicht mehr.
Eleni und ich machen uns auf den Rückweg.
Vier Geschwister hatte Pavlos. Sie alle haben sich in Initiativen für die Vermissten engagiert, über Jahrzehnte, in verschiedenen Ländern und unter den verschiedensten zypriotischen Präsidenten: Papadopoulos, Christofias, Anastasiades, Christodoulides.
„Ich glaube, dass mich unsere Familiengeschichte bereichert hat, auch wenn sie sehr schmerzhaft ist“, sagt Eleni auf der Rückfahrt. „Ich weiß nicht, wer ich sonst geworden wäre. Und dabei habe ich Pavlos nie kennengelernt. Ich werde nie wissen, was er für ein Mensch war.“
Seit 2001 ist der Dorfplatz in Kalavasos nach Pavlos benannt. „Plateia Pavlou P. Neocleous“, so steht es auf dem Gedenkstein am Rande des Platzes. Zur Einweihung im Jahr 2001 kam der zypriotische Außenminister. An Festen und Feiertagen sitzen die Zyprioten auf der Plateia dicht an dicht. Ihre weißen Plastikstühle schrappen nah am Gedenkstein vorbei.
Das Haus, in dem Pavlos und seine Familie lebten, liegt auf der anderen Seite des Dorfes. Im Innenhof wachsen Palmen und Obstbäume. Wein gibt es keinen mehr. Heute gehört es Fremden.
Nach dem Tod von Pavlos’ Vater zog seine Mutter Theodora mit ihrem jüngsten Sohn zu ihrer Tochter nach Kanada. Hier lebt sie bis heute, sie hat in Montreal Enkel aufwachsen sehen und Urenkel. Nun wächst in der Familie schon die zweite Generation heran, die den Krieg nicht mehr erlebt hat.
Eleni hat lange damit gehadert, ob sie ihrem heute sechsjährigen Sohn von Pavlos erzählen soll. Von seinem Schicksal, das die Familie so stark geprägt hat. Das Gedenken an einen geliebten Menschen weiterzugeben, sei ein egoistisches Bedürfnis, sagt sie. Und doch. „Es fühlt sich an, als würden wir unsere Pflicht tun, indem Pavlos in uns weiterlebt.“
Eine von Pavlos’ Nichten hat ein Gedicht geschrieben, in Kanada. Es heißt „Für Pavlos“.
„Da sind Stimmen überall um mich herum / Wehklagen der Gefallenen, Requiems für die Unschuldigen / Jammern, Flüstern, Murmeln im Nebel / Die Namen geliebter Menschen, die nachhallen, suchen.“
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