Pflegeversicherung unter Druck: Notoperation im Pflegesystem
Die demografische Entwicklung belastet die Sozialsysteme. Nun könnten die Beitragssätze für die Pflegeversicherung deutlicher steigen als erwartet.
Es ist kein Geheimnis: Die Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung steht auf wackligen Beinen. Ein Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland sorgte am Montag dennoch für Aufregung. Demnach könnte die soziale Pflegeversicherung ohne weitere Mittel bereits im Februar 2025 zahlungsunfähig sein. In der Ampelkoalition liefen daher bereits Gespräche über eine „Notoperation“, um eine Pleite zu verhindern.
Die Bevölkerung in Deutschland altert, damit steigt ihr Pflegebedarf. Um die ebenso steigenden Kosten zu decken, hatten die Krankenkassen für 2025 eine Erhöhung des Beitragssatzes um 0,2 Prozentpunkte prognostiziert. Dies reicht laut des RND-Berichts jedoch nicht mehr aus.
Mittlerweile wird von einem Bedarf in Höhe von 0,25 bis 0,3 Prozentpunkten ausgegangen. Begründet wird die Erhöhung auch mit der Bundestagswahl 2025. Die Erhöhung müsse so ausfallen, dass die längere Phase der Regierungsbildung überbrückt werden könne. Das Geld müsse mindestens bis zum Frühjahr 2026 ausreichen.
Lauterbach kündigt große Pflegereform an
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wies den Bericht über eine Pleite am Montag zurück: Die Pflegeversicherung sei weder insolvent, „noch droht ihr die Insolvenz“. Er räumte aber ein, dass sie unter „Beitragssatzdruck“ stehe. Ob und in welchem Umfang die Beiträge zur Pflegeversicherung angehoben würden, werde er in „wenigen Wochen“ sagen, wenn er eine große Pflegereform vorstelle.
Für die Verbände kommt die schlechte Finanzsituation der Pflegeversicherung kaum überraschend. „Seit vielen Monaten wird von allen Seiten davor gewarnt, dass die Beitragseinnahmen der Pflegeversicherung nicht mit den Ausgaben Schritt halten können“, so Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).
Der GKV rechnet bis zum Jahresende mit einem Defizit von knapp 1,8 Milliarden Euro. Zur kurzfristigen Stabilisierung fordert Pfeiffer, dass der Bund die Coronakosten ausgleiche. Bis jetzt trage die Pflegeversicherung die Sonderausgaben von 5,3 Milliarden Euro.
Im Jahr 2023 lagen die Gesamtausgaben für die soziale Pflegeversicherung bei fast 60 Milliarden Euro. Finanziert wird sie, ähnlich wie die Renten- und Krankenversicherung, größtenteils durch Umlagen. Davon kommt der Großteil aus Beitragseinnahmen. Der allgemeine Beitragssatz liegt derzeit bei 3,4 Prozent. Kinderlose zahlen vier Prozent. Für Familien mit mehr als einem Kind unter 25 Jahren gibt es Abschläge. Darüber hinaus wird die soziale Pflegeversicherung über private Eigenanteile und Zuschüsse von Bund und Ländern finanziert.
Sozialbeiträge steigen stark
Nicht nur bei der Pflegeversicherung bahnen sich Beitragssteigerungen an. Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung sind Erhöhungen von 0,7 Prozent geplant. Die Sozialbeiträge könnten so im Jahr 2025 insgesamt auf 1 Prozent steigen. Damit könnten die Sozialbeiträge laut Berechnungen des RND zum Jahresanfang 2025 so stark steigen wie seit mehr als 20 Jahren nicht mehr.
Kritik kommt vom Sozialverband VdK. „Was nicht hilft, sind weiter steigende Beiträge“, so VdK-Präsidentin Verena Bentele. Vielmehr müsse die Regierung endlich eine umfassende Reform angehen. „Wir brauchen eine Pflegeversicherung, in die wirklich alle einzahlen, egal ob Beamte, Selbstständige oder Abgeordnete“, so Bentele.
Eine Reform fordert auch Emmi Zeulner (CSU). „Wir brauchen eine Revolution in der Pflege. Das heißt, wir müssen an die Strukturen ran.“ 8 von 10 Pflegebedürftigen würden aktuell zu Hause versorgt – es gelte demnach die Infrastruktur mit Fokus auf die private Pflege neu zu planen.
Vier Modelle für eine Pflegereform
Wie geht es also weiter mit der sozialen Pflegeversicherung? Dass eine Reform der Pflegeversicherung dringend nötig ist, ist angesichts der demografischen Entwicklung unumstritten. Im Juli hatte eine Pflegekommission der Bundesregierung bereits vier Modelle für eine Pflegereform vorgestellt.
Zwei Modelle setzen dabei auf private Vorsorge. Die Pflegeversicherung würde nur einen Teil der Pflegekosten übernehmen, für den Rest müssten Versicherte mit Eigenanteilen aufkommen. Zwei weitere Modelle sehen hingegen vor, die Pflegeversicherung von einer Teil- zu einer Vollversicherung auszubauen.
Für die Gesellschaft sei nun der Zeitpunkt, um zu diskutieren, wie die Pflegeversicherung zukünftig aussehen könne, sagte Christine Vogler vom Deutschen Pflegerat. Auch der Verband der privaten Krankenversicherung äußerte sich. Die aktuelle, dramatische Entwicklung der sozialen Pflegeversicherung lasse keinerlei Spielraum für zusätzliche Leistungen, erklärte am Montag PKV-Verbandsdirektor Florian Reuther.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels