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Neuer Roman von Katja Lange-MüllerUngeliebte Kinder

Virtuosin des bösen Blicks: Katja Lange-Müllers Roman „Unser Ole“ ist ein brillantes Kammerspiel, das von Einsamkeit und Abhängigkeit erzählt.

Katja-Lange Müller in ihrer Wohnung in Berlin-Wedding Foto: Lia Darjes

In der DDR war der Schlagersänger Herbert Roth ein Star. Er tingelte im Robur-Kleinbus durch die Ferienorte im Thüringer Wald, war im Fernsehen zu Gast, und in einer wöchentlichen Radiosendung der „Stimme der DDR“ wurden Roths Lieder angeblich in Dauerschleife gespielt – darunter bestimmt sein Hit „Kleines Haus am Wald“, mit dem Katja Lange-Müllers neuer Roman „Unser Ole“ beginnt.

Jedenfalls kommt Ida der Refrain in den Sinn, während sie ihren Koffer packt. „Kleines Haus am Wald / Morgen komm ich bald“, lauten die Zeilen, die sie in der Jugend oft gehört hat. Ida wird in ein solches Refugium am Waldesrand einziehen, doch eine Idylle wie im volkstümlichen Liedgut darf sie nicht erwarten. Wie immer sind es sorgsam ausgewählte Details, mit denen Lange-Müller eine Figur charakterisiert und zugleich den gesellschaftlich-historischen Kontext aufzeigt.

Die attraktive Ida hat sich im Laufe ihres Lebens von Männern aushalten lassen. Das ging lange Zeit gut. Als die Mauer fiel und, wie sie selbst formuliert, auch bei ihr „der Lack ab“ war, hatte sie sich mit dem Geld eines „Langzeit-­Sugar­daddys“ künstliche Brüste machen lassen. Die straffe Oberweite ist seitdem ein körperliches Kapital, zu dem sie ein äußerst ambivalentes Verhältnis pflegt. Der gefühllose Busen wird jedenfalls zum Symbol für die unbefriedigenden Beziehungen, die Ida eingeht.

Der Roman

Katja Lange-Müller: „Unser Ole“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024. 229 Seiten, 24 Euro

Irgendwann bleiben die lukrativen Männerbekanntschaften jedoch leider aus. Noch jobbt sie als Seniorenmodel im Kaufhaus, doch im Grunde ist die 76-jährige Ida mittellos, muss ihre Wohnung bald verlassen. Gewissermaßen im letzten Moment lernt sie Elvira kennen, die Frau mit dem Haus am Wald, das der früh verstorbene Gatte hinterlassen hat. Die Witwe kann etwas Unterstützung im Haushalt gut gebrauchen. Denn sie kümmert sich um ihren geistig zurückgebliebenen Enkel, den ihre Tochter Ma­nue­la kurz nach der Geburt verstoßen hat.

Ohne Moos nix los

Ida lässt sich auf die „Dreier-WG“ mit gemischten Gefühlen ein, weil sie befürchtet, Elvira könne möglicherweise eine „lesbische Ader“ haben, doch sie hat keine andere Wahl. „Wird schon schiefgehen“, ermuntert sich Ida, die vor keiner noch so abgedroschenen Redensart zurückschreckt, was die Figur trotzdem nicht unsympathisch macht, sondern sie in ihrer Bodenständigkeit sprachlich treffend beschreibt.

„Ohne Moos nix los“, könnte Idas Lebensmotto lauten, aber auf diesen Spruch wartet man vergeblich. Tatsächlich verbindet die Figuren in diesem Roman eine bittere Abhängigkeit vom Vermögen, das andere einmal verdient haben. Die Folge sind Lebenslügen und Konstella­tio­nen des Zusammenlebens, in denen die Menschen auch in Gesellschaft einsam sind.

Es gehört zur literarischen Kunst der vielfach ausgezeichneten Autorin, dass nicht nur Charaktere und Einzelszenen stimmig entwickelt sind. Die perfekt gebaute und doch nicht so leicht zu durchschauende Dramaturgie des Kammerspiels bietet zudem eine erstaunliche Spannungsgeschichte: Der Titelheld glänzt zunächst mit Abwesenheit.

Damit drehen sich die Macht­verhältnisse in der seltsamen WG erneut

Ole haust unbeachtet in der Dachkammer, futtert Bockwürste und säuft literweise Cola. Dann stürzt Elvira die Treppe hinunter, und der Verdacht liegt nahe, dass der jähzornige Junge mit dem Tod der Großmutter etwas zu tun haben könnte. Doch Ole verweigert nicht nur die polizeilichen Befragungen, er reagiert auch völlig desinteressiert, als seine leibliche Mutter auftaucht.

Gefühlskalte Mütter

Damit drehen sich die Machtverhältnisse in der seltsamen Wohngemeinschaft erneut. Manuela möchte am liebsten nicht nur Ida, sondern auch den grobschlächtigen Sohn loswerden. Sie spekuliert auf eine Erbschaft, die ihr endlich ein Leben ohne Stütze ermöglicht. Mit der anstehenden Beerdigung befasst sich Manuela nur widerwillig. Die Lieblosigkeit der verstorbenen Mutter, unter der sie als Mädchen gelitten hatte, und die Scham über ihr eigenes Verhalten gegenüber Ole, lähmen sie weiterhin.

Obwohl oder vielleicht weil Ma­nue­la nie erwachsen wurde, durchschaut sie schnell die prekäre Lage von Ida, die sich ebenfalls an einer gefühlskalten Mutter abgearbeitet hat. Statt aus den Erfahrungen gemeinsam zu lernen, statt endlich Empathie für das schwächere Gegenüber zu entwickeln, degradiert Manuela die Gefährtin der Toten zu einer Hausangestellten, die schuften muss, um nicht vor die Tür gesetzt zu werden. Dass allein Ole sich aus dem Geflecht der Abhängigkeiten zu lösen vermag, ist die kuriose Pointe dieses brillanten Buchs.

In ihren vorangegangenen Romanen „Böse Schafe“ und „Drehtür“ hat Katja Lange-Müller gezeigt, wie wichtig die Wahl der Erzählperspektive für das Gelingen eines längeren Prosawerks ist. In „Unser Ole“ stellt sich die Berliner Schriftstellerin als allwissende Instanz vor: „Diese Geschichte ist nicht erfunden, schon gar nicht frei.“ Die Namen habe sie geändert, den Menschen „Gedanken in den Kopf und Wörter in den Mund gelegt“, auch um Spuren zu verwischen, „obwohl zwei von ihnen bereits verstorben sind, mich also ohnehin nicht mehr verklagen könnten“.

Die Position, die mit dem Justiziablen spielt, könnte dazu führen, dass eine literarische Richterin über ihre Figuren herzieht. Doch das Gegenteil ist der Fall, die traurigen Heldinnen entblättern sich durch erlebte Rede und inneren Monolog von sich aus; der für die Charaktere angemessen schnoddrige Tonfall, der gewiss dem literarischen Naturell Lange-Müllers entspringt, lässt dabei von Beginn keine sentimentale Stimmung aufkommen. Mit „Unser Ole“ hat Katja Lange-Müller, eine Virtuosin des bösen Blicks, abermals bewiesen, wie zeitgemäß und erhellend ein psychologisch grundierter Realismus heute noch ist.

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1 Kommentar

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  • Wie der geneigte Eisdielengeher schon immer wusste: Frag Ole!