Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller: „Ich bin halt furchtbar pingelig“
Nach 10 Jahren hat Katja Lange-Müller wieder einen Roman veröffentlicht. Schreiben ist für sie ein Akt größter Konzentration. Ein Hausbesuch.
Draußen: Der Himmel ist hellblau, die Luft spätsommerweich, und am Himmel dröhnen die Flugzeuge. Hier, am Leopoldplatz in Berlin-Wedding, wo Junkies betteln und Mütter rauchend auf den Spielplatzbänken sitzen, wohnt Katja Lange-Müller im Dachgeschoss eines Altbaus.
Drinnen: „Bitte die Schuhe anlassen“, sagt sie. Rauch steht in der Luft. Auf dem Tisch ein Teller mit Brownies und Nusskuchen, an den Wänden Bilder von Künstlerfreunden: Skelette, Affen, eine düstere Landschaft. Und eine gerahmte Zeichnung mit Insektenstudien.
„Schlupfwespen sind das“, sagt Lange-Müller. Und erzählt die Geschichte dazu: Ein Ingenieur, klein und dünn, lebte unter der Knute seiner Frau, die dick und dominant war. Eines Nachmittags war er auf dem Weg zu einem Essen mit seiner Frau, auf das er keine Lust hatte, und entdeckte in einem Rasenstück kleine Löcher. Er legte sich auf den Bauch und sah, wie Schlupfwespen aus den Löchern krochen. Detailversessen begann er, Schlupfwespen zu zeichnen. Tag für Tag. „Gehst du wieder zu deinen Fliegen?“, fragte die Frau jedes Mal resigniert. Lange-Müller lacht laut und rau. „So hat er sich von ihr befreit.“
Seine Tochter schickte Katja Lange-Müller die Studien nach seinem Tod zu. Seitdem hängen sie in ihrem Wohnzimmer. Daneben baumeln Insekten, geflochten aus Palmblättern, „Viecher“, sagt Katja Lange-Müller, „ich besprühe sie ab und zu mit Wasser“. Sie stammen von einem asiatischen Straßenhändler, der sie ihr in Rom gebastelt hat, während ihres Aufenthalts in der Villa Massimo. Eigentlich sollte sie da schreiben, hat sie aber nicht.
Katja Lange-Müller: 1951 in Berlin-Lichtenberg geboren, mit 16 wegen „unsozialistischen Verhaltens“ der Schule verwiesen, Schriftsetzerin, Krankenschwester in der Frauenpsychiatrie und Arbeiterin in einer mongolischen Teppichfabrik, seit 1984 Westberlinerin und staatlich geprüfte Pilzsachverständige. Vor allem aber Schriftstellerin. „Das bleibt man immer. Bis Gevatter Tod kommt. Das kann von mir aus bald sein, ich hänge nicht so sehr am Leben. Außer wenn ich schreibe, dann schon.“
Pausen: Fast zehn Jahre sind seit dem letzten Roman vergangen. Lange-Müller lächelt verlegen. „Ich bin halt furchtbar pingelig.“ Sie erzählt von der Zeit ihres Schreibstipendiums in Rom: „Ein schwieriger Jahrgang.“ Und von ihrer Reise in die Türkei während der Gezi-Proteste 2013. Kaum war sie da, war die Zeit auch schon um. „Es passierte so viel, wir waren so aufgeregt und erbost.“ Sie findet, beim Schreiben solle man sich konzentrieren und das „biologische Verfallsdatum“ der Leser respektieren. Wer soll all das lesen? Lieber weniger, dafür richtig gut.
Inspiration: Vor ihrer Reise in die Türkei hatte sie eine Serie von Träumen, aus denen sie schweißnass auffuhr: Sie kam nicht dort an, wo sie hinmusste. Weil sie nicht wusste, wo sie umsteigen sollte. Weil ihre Tasche unterwegs verloren ging. Oder: Sie wollte in der Frauenpsychiatrie kündigen, wusste aber nicht mehr, ob sie die Kündigung abgeschickt hatte. In einer dieser Nächte fragte sie sich, was wohl aus ihr geworden wäre, wäre sie Krankenschwester geblieben.
So kam Asta zu ihr, die Hauptfigur ihres neuen Romans „Drehtür“. Sie hat lange im Ausland gearbeitet. Als sie älter wird und anfängt, Seren falsch zu injizieren, und ihre Handschuhe vergisst, schenken ihr die KollegInnen ein Ticket in die inzwischen fremde Heimat. Ein Jahr jünger als Lange-Müller, steht Asta am Münchner Flughafen neben einer Drehtür und raucht. „Sie ist nicht mehr ganz alleine im Oberstübchen“, sagt Lange-Müller: die Passanten um sie herum sehen aus wie Weggefährten, sind Stichwortgeber für Erinnerungskaskaden. „Eine Figur, die sich um ihr Leben erinnert.“
Das Helfen: Schon in „Böse Schafe“, Lange-Müllers vorletztem Roman, ging es um die Lust am Helfen: Da war Soja, die nicht von ihrem Junkie lassen konnte, obwohl er andere Frauen hatte und verschwieg, dass er HIV-positiv war. „Helfen ist im vergangenen Jahr ja wieder schick geworden“, sagt Lange-Müller. „Plötzlich war ‚Opfer‘ kein Schimpfwort mehr.“ Sie hat über Merkel und die Flüchtlinge nachgedacht, über das sportliche, blindwütige Helfenwollen, die letzte Domäne des unangreifbar Guten, die zwiespältiger wird, je länger man sich mit ihr befasst. Dann zog sie ihren Bademantel an, stellte Zigaretten und eine Kiste Sprudelwasser bereit und schrieb. „Ich hätte auch einen Essay schreiben können, aber es wurde ein Roman.“
Hilfe und Freundschaft: Im Unglück entsteht Nähe – manche Menschen nutzen diese Dynamik, auch Freunde. „Es gibt Freunde“, sagt Katja Lange-Müller, „die melden sich nur, wenn es einem schlecht geht. Da blühen die richtig auf. Bringen Rotwein und Taschentücher.“ Glück gemeinsam zu erleben ist selten, sagt sie, das gibt es eher in der Liebe. „Wobei der Orgasmus meistens auch nicht gemeinsam ist.“ Sie lacht ihr raues Lachen, das zum Husten wird.
Und die Liebe? „In der Liebe spielt der Beistand eine untergeordnete Rolle, wenn nicht gar keine. Wahrscheinlich ist Sexualität nicht humanisierbar.“ Ihr Freund lebt zwischen Basel und Zürich. „Da kommt man leicht hin, aber auch leicht wieder weg.“ Vielleicht wird sie irgendwann dort hinziehen. „Ich bin da ganz gerne, und Deutschland ist ein Stück weit weg. Es schreibt sich besser über Dinge, wenn man nicht so nah dran ist.“
Das Schreiben: Ist eine Mischung aus gnadenloser Ehrlichkeit und bretterbiegender Verlogenheit, sagt sie. Manchmal mag sie es nicht. Sie schweigt. Und sagt dann: Natürlich schreibt sie noch ein Buch. Aber sie will sich Zeit lassen. „Schriftsteller sind asozial, wenn sie am Schreiben sind. Das Zusammenleben ist dann schwierig. Der andere steht mit geneigtem Haupt in der Tür und will etwas, aber man denkt: Du kannst da jetzt nicht raus, es geht nicht.“
Der nächste Roman: Das Thema deutet sie auf den letzten Seiten von „Drehtür“ an, in jedem Roman steckt ein Hinweis auf den nächsten: Es wird um zwei Schwestern, Verrat und einen debilen Jungen gehen.
Älter werden: „Man ist mit 11 oder 12 ein wissbegieriger Mensch – nach den Wechseljahren kommt das wieder. Dann, wenn man keinen Liebeskummer mehr hat und der Kopf frei ist. Ein Vorteil, den man erst erkennt, wenn es soweit ist.“
Zukunft: „Das nächste, was ich zu meiner Entspannung schreiben werde, ist ein kleiner Band über Maulwürfe“, sagt sie. In einer Glasvitrine hinter dem Wohnzimmertisch stehen Tierfiguren, darunter ein ausgestopfter Maulwurf. „Von einem Schweizer Freund, der wusste, dass ich Maulwürfe schätze.“
Warum schätzt sie Maulwürfe? „Sie sind Untergründler, Einzelgänger, bissig – was will man mehr?“
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