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Bedeutung der BuchmesseAm Puls der Themen und Triggerpunkte

Kommentar von Dirk Knipphals

Rein rational lässt sich die komplexe Gegenwart nicht mehr bearbeiten. Ein Glück, dass es Li­te­ra­t*in­nen und die Buchmesse gibt.

Blick in eine Halle vor der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse Foto: Hannelore Foerster/imago

E inmal auf der Frankfurter Buchmesse gewesen zu sein: Das kann das Bild von unserer Gesellschaft ändern.

Heute werden die Messehallen fürs Publikum geöffnet. Im Vorfeld wird gern über Verlagsprobleme geredet. Manche Verlage haben Sorgen, viele auch existenzielle. Suhrkamp, lange Jahre der literarisch-intellektuelle Vorzeigeverlag, hat einen neuen Inhaber, gerade sind alle ziemlich nervös. Dann bekommt eine Schriftstellerin den Deutschen Buchpreis (Glückwunsch an Martina Hefter, gutes Buch!) und andere Au­to­r:in­nen bekommen ihn dafür aber nicht (schade vor allem für Clemens Meyer und Ronya Othmann, die auch gute Bücher geschrieben haben).

Sobald die Messehallen öffnen, sind das alles nur noch zwei Smalltalk-Anlässe in einem wahren Orkan von Anlässen. Worum es auf der Buchmesse nämlich wirklich geht, ist weder der Businesstalk, noch sind es die Literaturpreise. Es sind vielmehr die Themen, die Triggerpunkte, die Thesen und Hot Takes, die unsere Gesellschaft umtreiben. Mit ihnen wird man an diesen fünf Messtagen bis Sonntag in einer intensiven Weise konfrontiert, die einzigartig ist. Man bekommt einen geradezu körperlichen Eindruck davon, dass die moderne Gesellschaft eine diskutierende, debattierende, hinterfragende, auch schlicht quatschende Veranstaltung ist. Und dass dieses Diskutieren, Debattieren und Quatschen nicht nur kulturstiftend, sondern auch politisch wichtig ist.

Gefühle werden hier systematisch bearbeitet

Schon zu Beginn der diesjährigen Messe lässt sich sagen, dass 2024 viel über Gefühle geschrieben und diskutiert werden wird. Auf der politischen Ebene über ihre Macht in populistischen Diskursen. Vielleicht hat man wirklich die komplizierten Transformationsprozesse unserer Gesellschaft bislang zu sehr als rein rational bewältigbar angesehen. Dem gehen in diesem Jahr viele Sachbücher nach.

Auch im sogenannten Privaten müssen Gefühle bearbeitet werden. In den Romanen und Sachbüchern rumoren Traumata – kein Wunder, bei der Massivität der vergangenen und der Nähe der gegenwärtigen Kriege und auch angesichts vieler Gewaltverhältnisse, die unsere Gesellschaft immer noch durchziehen. Da müssen aber auch Geschlechterverhältnisse und Generationenbeziehungen neu geordnet werden.

Als einzelne Leserin oder einzelner Podcastkonsument mag man sich, mit solchen Themen konfrontiert, ein bisschen verloren vorkommen. Auf der Buchmesse aber kann man mitkriegen, wie viele Menschen dabei sind, jene Gefühle, die die moderne Gesellschaft auslöst, zu analysieren, zu bearbeiten, ein Stück weit auch, sie auszuleben. Das kann einen teilweise erschlagen – es schwirrt einem nach dem Besuch der Buchmesse schon manchmal der Kopf. Doch dass man allein ist mit seinen Gefühlen und seinen Themen, das wird man nicht mehr denken.

Die Probleme gelöst kriegt man auf einer Buchmesse nicht. Aber angesprochen, das werden sie. Und kaum irgendwo ist eine moderne Gesellschaft freier und quirliger als hier.

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Literaturredakteur
Dirk Knipphals, Jahrgang 1963, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Kiel und Hamburg. Seit 1991 Arbeit als Journalist, seit 1999 Literaturredakteur der taz. Autor des Sachbuchs "Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind" und des Romans "Der Wellenreiter" (beide Rowohlt.Berlin).
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