Nostalgie in der Diaspora

Giulia Caminitos Kolonialroman „Das große A“ erzählt in bildhafter Sprache und mit leiser Ironie eine Familiengeschichte in den italienischen Kolonien Ostafrikas

Die heutige Cathedral Bar in Asmara, Eritrea. Der italienische Einfluss ist unverkennbar Foto: Robert Haidinger/laif

Von Nina Apin

Lombardei in der Endphase des Zweiten Weltkriegs: In der Schule heißt es Strammstehen für den Duce, zu Hause gibt es trockenes Brot und Schläge, andauernd ist Bombenalarm. Für die 13-jährige Gia­da ist das Leben hart. Getrennt von ihren Geschwistern wächst sie als ungeliebtes Mündel bei ihrer Tante auf, einer glühenden Faschistin. Abgeladen von der Mutter, die im fernen Afrika eine Bar betreibt und Lkw fährt. Auf ihren kurzen Stippvisiten in Legnano steigt „die Mama“ geschminkt wie eine Hollywood-Diva aus ihrem Wagen, verteilt Kekse und verschwindet wieder in einer Wolke aus Diesel und dem Qualm französischer Zigaretten. Bis sie nach Kriegsende endlich kommt und ihre Tochter ins „große A“ mitnimmt, wo sie selbst Freiheit und Lebensperspektiven gefunden hat.

Doch das nordöstliche Eritrea gleicht nicht dem kolonialen Märchenland voller weißer Häuser am Meer, das Giada sich nachts vor dem Einschlafen vorgestellt hat. Zwischen dem Schichtdienst in Mamas Bar, glühender Wüstenhitze und der Nostalgie einer isolierten italienischen Diasporagesellschaft muss sich die wegen ihrer körperlichen Zartheit dauerunterschätzte Frau ihren Platz erkämpfen.

Giulia Caminitos Roman „Das große A“ ist ein geschichtenpralles Panoptikum des Lebens in Italienisch-Ostafrika, zu dem zeitweise auch Somaliland und das besetzte Äthiopien gehörten. Man trinkt geschmuggelte Spirituosen bei Adele, spielt im Juventus-Club „Scopone“ und Poker und geht samstags geschlossen ins Kino, um dem mit Verzögerung gezeigten italienischen Film zu huldigen – „den Mund zwar voller Kritik und Beschimpfungen, Vorwürfe und Missfallen, Melancholie und Verzweiflung, aber man ging Italien anschauen“.

Wie durch ein Schlüsselloch sieht die Leserin Giada und ihrer Mutter beim Leben zu, zwei ungleichen und zähen Frauen: wie sie lieben und an unzuverlässigen Männern, der Misogynie oder der kleingeistigen Schwägerin scheitern, in der Wüste Gazellen jagen, ein Kind großziehen und schließlich in einem Klima der politischen Instabilität aufbrechen, um bar jeder Illusionen in Italien wieder von vorn anzufangen.

Eine komplexe, makellos konstruierte Handlung, eine bildstarke Sprache voller eindringlicher Szenen, aber pathosfrei: In Italien erlangte dieses erstaunliche Debüt der damals gerade 28 Jahre alten Römerin Giulia Caminito bereits 2016 große Aufmerksamkeit. Es öffnete ein Fenster in die bislang unterbelichtete Zeit des italienischen Kolonialismus in Ostafrika – zwei Jahre später sollte Francesca Melandris Kolonialsaga „Sangue Giusto“, die in Deutschland unter dem Namen „Alle, außer mir“ erschien, ein Riesenerfolg werden. Dass Giulia Caminitos „Das große A“ nun mit einiger Verspätung ins Deutsche übersetzt wurde, ist auch eine Reaktion auf das Interesse des Lesepublikums an kolonialen Themen. Vor allem aber liegt es an der literarischen Kraft dieser Autorin, der es bereits mit zwei anderen Romanen gelungen ist, ihren LeserInnen überzeugend völlig unterschiedliche Welten nahezubringen. „Das Wasser ist niemals süß“, 2021 für den Premio Strega nominiert, ist eine nördlich von Rom angesiedelte Coming-of-Age-Geschichte, die ein hartes Licht auf die Aufstiegsperspektiven junger Ita­lie­ne­r*in­nen wirft. Im Vorgänger „Ein Tag wird kommen“, angesiedelt in den ländlichen Marken Anfang des 20. Jahrhunderts, suchen zwei Brüder zwischen Anarchismus, der Spanischen Grippe und dem aufkommenden Faschismus nach Gerechtigkeit.

Giulia Caminito: „Das große A“. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Wagenbach Berlin 2024, 272 Seiten, 24 Euro

Wie in ihren anderen Romanen verarbeitet Giulia Caminito auch in „Das große A“ einen Teil ihrer eigenen Familiengeschichte. Ihr Vater wurde im eritreischen Asmara geboren, ihre Urgroßmutter war Schmugglerin und Barbesitzerin in Assab – der Wüstenstadt, in der Giada und ihre Mutter Adele im Roman nicht luxuriös, aber gut leben. Und mit ihnen ein Konglomerat aus Altfaschisten, gepamperten Diplomatengattinen und Unternehmern, die dem äthiopischen Kaiser die Treue geschworen haben.

Mit leiser Ironie schildert Caminito die Schockstarre der italienischen Community, als es 1960 in Eritrea zum lange befürchteten Aufstand kommt: „Im Radio ist die Rede von einer neuen, einer glücklichen Ära. Aber während die Bevölkerung Position bezog, herrschte in der italienischen Gemeinde eisiges Schweigen und Nichteinverständnis in Gestalt von hängenden Schultern. Der Schutz des Negus hatte die Nichtbeachtung durch die italienische Regierung wettgemacht, die diesen mythischen Platz an der Sonne schnell vergessen hatte. Eine Sonnenfinsternis war über sie hereingebrochen.“