: Sind die Piraten die bessere FDP?
LIBERALISMUS Die Piraten sind für Freiheit im Netz und gegen zu viel Staat. Eigentlich klassische FDP-Positionen
Die sonntazfrage wird vorab online gestellt.
Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz. www.taz.de/streit oder www.facebook.com/taz.kommune
JA
Mark Neis, 39, Systemadministrator, ist seit 2009 Mitglied der Piratenpartei
Liberale stehen für eine freiheitliche Ordnung, an der jeder gleichermaßen teilhaben kann. Die FDP sieht sich selbst als liberale Partei, wird diesem Anspruch aber seit langer Zeit kaum noch gerecht. Eine Beteiligung der Basis findet kaum statt. Es weht nicht die Fahne der Freiheit, sondern die der Wirtschaft. Die bürgerrechtsorientierte FDP tritt kaum noch in Erscheinung. Im Gegenteil, selbst in der FDP ist die Verteidigung der Bürgerrechte zu einer Minderheitenmeinung geworden, die innerparteilich torpediert wird. Die Piraten hingegen organisieren sich strikt basisdemokratisch, treten für mehr Transparenz in der Politik ein und legen Entscheidungsprozesse und Spendengelder offen. Die Piraten vertreten als Einzige der großen Parteien die Rechte der Bürger. Sie bekämpfen die Politikverdrossenheit, indem sie die Bürger aktiv mitentscheiden lassen – nicht nur alle vier oder fünf Jahre an der Wahlurne – eine Zäsur in der bisherigen Politik. Fraktionssitzungen der Berliner Piraten sind öffentlich im Internet zu sehen. Einen Fraktionszwang gibt es weder in Berlin noch im Saarland. Mit ihrer Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen gehen sie die Probleme des Sozialstaats offensiv an. Die Piraten vertreten den Menschen und beschränken sich nicht auf ökonomische Fragen. Sind die Piraten also die bessere FDP? Ja, denn sie sind die humanistischen Liberalen.
Anke Domscheit-Berg, 44, ist Unternehmerin und Aktivistin für ein freies Internet
Mit den Wahlen im Saarland zeigt die FDP, welche Rolle ihr zukommt: Sie vertritt ein Prozent der Gesellschaft. Die Themen der Piraten betreffen eher die anderen 99 Prozent, sie betreiben nicht Klientel-, sondern Bürgerpolitik. Es gibt keinen Kompetenzbereich, den man der FDP noch zuschreiben kann. Ihre Rezepte sind die eines vergangenen Jahrtausends. Für Antworten auf die großen Veränderungen im digitalen Zeitalter ist die Piratenpartei der kompetentere Ansprechpartner. Ganz egal, ob es um wirtschaftliche Themen wie neue Geschäftsmodelle geht oder um die Verteidigung elementarer Bürgerrechte, wie das Recht auf freie, anonyme Meinungsäußerung, oder den Schutz vor Überwachung durch den Staat. Akzente setzen Piraten. Sie mobilisieren effektiv gegen Angriffe auf die Freiheit. Auch unsere liberale Justizministerin hat Acta, das Anti-Counterfeiting Trade Agreement, unterstützt und damit beinahe eine überfällige Urheberrechtsreform auf Jahre verhindert. Erst der von Piraten und ihren Sympathisanten organisierte Massenprotest ließ die FDP einlenken.
Tobi Mandt hat die sonntazfrage auf der taz-Facebook-Seite kommentiert
Die Piraten sind zwar eher ein Wiedergänger der frühen Grünen. Sie haben aber das Potenzial, zu einer „besseren FDP“ zu werden, weil es die FDP im eigentlichen Sinne doch schon lange nicht mehr gibt. Jedenfalls, sofern man das F im Namen ernst nimmt. Traditionelle liberale Positionen aus Zeiten von Hildegard Hamm-Brücher und Gerhart Baum – also Leuten, die man noch guten Gewissens hätte wählen können – sind doch vollständig einer verquasten Wirtschafts- und Steuerpolitik geopfert worden. Lediglich Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hält so etwas wie die Fahne der Bürgerrechte hoch. Aus einer liberalen Partei wurde eine Spaßpartei, und aus der Spaßpartei wurde eine belanglose Partei. Die Piraten knüpfen an den Freiheitsgedanken der alten Linksliberalen an und haben ihn in unsere Zeit übersetzt. Netzpolitik ist einerseits ein neues politisches Terrain, auf dem alle Parteien erst einmal ihre Position finden müssen, zum Anderen werden zurzeit rund um das Internet die wichtigsten bürgerrechtlichen Fragen der Gegenwart diskutiert und entschieden. Vielleicht sollte Frau Leutheusser-Schnarrenberger das Parteibuch wechseln, Frauen fehlen den Piraten ja schließlich noch.
NEIN
Hildegard Hamm-Brücher, 90, trat vor zehn Jahren aus der FDP aus
Es ist viel zu früh, darauf heute bereits eine Antwort zu geben. Die Piraten haben liberale Ansätze und großen Erfolg. Aber die bessere FDP, das wären doch viel eher die Grünen. Wir Liberale haben Anfang der siebziger Jahre ja auch Umweltpolitik gemacht und waren aufmüpfig. Heute verfolge ich täglich, was die Piraten machen. Aber wir müssen abwarten, wie es mit den Piraten weitergeht. Schließlich besteht Politik ja nicht nur aus Gags. Wenn sie aber in Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein ins Parlament kommen, müssen wir uns die Frage bestimmt noch einmal stellen.
Juli Zeh, 37, Schriftstellerin, veröffentlichte das Buch „Angriff auf die Freiheit“
Die FDP hat das Vertrauen der Wähler verspielt, weil sie in den letzten Jahren sukzessiv vergessen hat, was der Begriff „liberal“ bedeutet. Das Thema wurde einseitig ökonomisch interpretiert, was in eine Klientelpolitik führte. Die Piraten werden diesen Begriff reanimieren: als individuelle und bürgerliche Freiheit, Freiheit zur Selbstverwirklichung und Partizipation. Dazu gehört auch ein neuer Politikstil, von dem Politiker, die Sätze sagen wie „Aber auch wir schreiben E-Mails und haben eine Homepage“ himmelweit entfernt sind. Ins Rechts-links-liberal-Schema lassen sich die Piraten schwer einordnen. Das liegt einerseits daran, dass sie ihren Selbstfindungsprozess noch vor sich haben. Andererseits aber gibt es eine wachsende Gruppe von politisch Interessierten, die ebenso quer zu den herkömmlichen Kategorien liegt. Es ist ein spannendes Experiment. Die Piraten sind neu – aber die FDP sind sie nicht.
Gerhart R. Baum, 79, FDP, war von 1978 bis 1982 Bundesminister des Innern
Die FDP könnte als liberale Partei insgesamt besser sein, aber die Piraten sind nicht die bessere FDP. Ihre programmatischen Positionen sind unklar oder abzulehnen wie das bedingungslose Grundeinkommen. Im Bereich der Bürgerrechte können sie der liberalen Bundesjustizministerin nicht das Wasser reichen. Sie hat unter anderem den Wegfall der Netzsperren erreicht und den zensurverdächtigten Acta-Vertrag nicht unterzeichnet. Die Piraten verwechseln Freiheit im Netz mit Anarchie. Der Schutz des geistigen Eigentums im Netz ist schwierig, muss aber einer Lösung zugeführt werden, die den Kreativen gerecht wird. Ausufernde Basisdemokratie und rigorose Transparenz garantieren keine bessere Demokratie. Die repräsentative Demokratie dagegen bedarf dringend der Auffrischung. Der Frust der Piratenwähler ist nicht unberechtigt.
Karl-Rudolf Korte, 54, ist Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen
Wann ist man besser? Wenn man als Partei zurzeit mehr Mandate erhält als die FDP? Oder zielt die Stoßrichtung der Frage auf den Grad an Liberalität? Dann müsste der prinzipielle Vorrang der Freiheit die Programmatik und den Habitus prägen. Die Piraten kämpfen vehement für Freiheit, allerdings bislang nur erkennbar im Bereich des Netzbürgers. Das ist eindeutig Bürgerrechtsliberalismus, aber eben nur ein Teilaspekt. Wie ordnen sich die Piraten als Staatsbürger, Unternehmer und Verbraucher ein? Vieles ist naturgemäß bei einer so jungen und dynamisch-frischen Partei nicht ausformuliert. In der Wahrnehmung der Wähler steht sie links. In den Landtagswahlprogrammen der Piraten findet sich keineswegs die ausgeprägte Staatsskepsis der FDP. Piraten setzen deutlich auf den umverteilenden Staat im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Marktliberalismus ist bei den Piraten ebenso Fehlanzeige wie der besondere Schutz des Eigentums. Piraten haben liberale Wurzeln, aber bislang nicht mehr als andere auch.
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