: Sie nutzt die Kraft der Farben
Galina Böttcher protestiert gegendie Repressionen in Belarus – mit ihrem Look, ihrem Wesen, ihrem Wirken. Im Wohnzimmer hat sie ein kleines Belarus-Museum eingerichtet
Von Jens Uthoff (Text) und Miriam Klingl (Fotos)
Symbole sind wichtig im Kampf gegen Diktatoren. Galina Böttcher lotet deren Kraft bis in die Haarspitzen aus.
Draußen: Eine Seitenstraße der Sonnenallee in Berlin-Neukölln. Vor einem Wohnhaus mit hellgelber Fassade steht eine große Linde. Das Eingangstor zum Hof ist mit Tags und Graffiti beschrieben, wenige Meter weiter prangt der Schriftzug „FCK AFD“ an einer Hauswand.
Drinnen: Durch einen schmalen Flur führt Galina Böttcher ins Wohnzimmer. Die Tischdecke, das Geschirr, die Servietten, ihre Kleidung, die Gegenstände im Regal: alles ist weiß und rot. Weiß-Rot-Weiß sind die Farben der belarussischen Bürgerrechtsbewegung. Böttcher engagiert sich seit der gescheiterten Revolution 2020 für die belarussische Opposition und gegen Diktator Lukaschenko. Sie ist in den sozialen Medien aktiv, unterstützt oppositionelle Künstler:innen und Aktivist:innen. Die 70-Jährige serviert Pflaumenkuchen, schenkt Kaffee ein. „Dann lass uns mal unterhalten.“
Kindheit: Galina Böttcher wird in der Sowjetunion geboren, sie kommt 1954 in Omsk in Sibirien zur Welt. Ihre Familie mütterlicherseits stammt aus Omsk, die Familie des Vaters aus der Leningrader Region. In den Sechzigern geht ihre Familie in die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR), wie das Land damals noch heißt. „Ich war zehn, als wir nach Minsk zogen. Belarus war damals ein fremdes Land für mich. Die Menschen hatten eine ganz andere Mentalität, sprachen anders. Belarus wurde zu meiner zweiten Heimat.“
Jugendliebe: Mit 14 lernt sie ihren späteren Ehemann kennen. Er stammt aus der DDR. „Es gab damals Freundschaftszüge, die zwischen der DDR und der BSSR verkehrten. In einem saß damals ein junger deutscher Mann. Er war ein Jahr jünger als ich.“ Nachdem er abgereist ist, bleiben sie Brieffreunde. Daraus entsteht eine Liebe. 1980 heiraten sie, ein Jahr später zieht Böttcher zu ihm nach Strausberg bei Berlin. „Ich habe ihn sehr geliebt.“
Der erste Mann: Ihr Mann ist NVA-Offizier, in Strausberg stationiert, hat dort eine Dienstwohnung. „Er war überzeugter Kommunist und Genosse, er hat einfach an die Sache geglaubt. Er war immer für die Soldaten da, hat ihnen geholfen, wo er konnte.“ Mit ihm bekommt Böttcher zwei Söhne, eine Tochter. Zehn Jahre hält die Ehe, „1990 sind wird dann getrennte Wege gegangen und haben uns scheiden lassen“. Er zieht mit der Tochter nach Kassel, sie bleibt mit den Söhnen in Strausberg. Den Nachnamen ihres ersten Mannes trägt sie trotzdem weiter – auch als sie die deutsche Staatsbürgerschaft annimmt.
Die Taube: Während des Gesprächs setzt sich eine Taube auf das Geländer ihres Balkons. „Die ist ganz zahm, die kennt mich schon.“ Böttcher geht in Richtung Balkon, nimmt Sonnenblumenkerne in ihre Hand, hält sie der Taube hin. Die pickt die Kerne aus ihrer Hand.
Die Sprachbegabte: Böttcher wird in den Siebzigern in die pädagogische Hochschule für Fremdsprachen in Minsk aufgenommen, studiert dort Französisch und Deutsch. In der DDR unterrichtet sie später Französisch und Russisch an der Polytechnischen Oberschule. Nach der Wende arbeitet sie in einem Hort in Strausberg, im Jahr 2000 zieht sie von Strausberg nach Neukölln. 2004 bekommt sie das Angebot, in Magdeburg an einer Sekundarschule zu unterrichten. Sie bleibt bis zu ihrer Rente 2019 in der Hauptstadt Sachsen-Anhalts. Dann geht sie zurück nach Berlin.
Solschenizyn: „Mit 18 habe ich das Buch ‚Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch‘ gelesen. Das wurde damals in Belarus und vor allem in der Sowjetunion überall kritisiert, von den Bauern, den Arbeitern, den Politikern.“ Alexander Solschenizyns Buch erzählt von einem Tag im Leben eines Häftlings im Gulag. „Ich dachte damals schon: Er hat doch nur die Wahrheit geschrieben, nichts als die Wahrheit.“
Die Kritische: Immer die Wahrheit auszusprechen ist Böttcher wichtig. Als sie zu DDR-Zeiten nach dem Mutterschutz wieder zum Dienst erscheint, unterhält sie sich mit einer Kollegin. „Wieso arbeitest du noch, dein Mann verdient doch gut“, habe die Kollegin sie gefragt. Sie habe entgegnet: „1.500 Ost-Mark – das nennst du ein gutes Gehalt? Im Westen würde er als Offizier 4.000 D-Mark verdienen.“ Die Kollegin verrät sie, berichtet den anderen Lehrer:innen von Böttchers kritischen Äußerungen. „Plötzlich steht so eine FDGB-Tussi vor mir und fragt mich, ob ich das wirklich gesagt hätte“ (FDGB: Freier Deutscher Gewerkschaftsbund). Böttcher bleibt bei ihrer Aussage. Zunächst soll wegen des Vorfalls eine Schulversammlung einberufen werden, bei der sie Rede und Antwort stehen soll. „Dazu ist es dann nicht gekommen, wohl auch, weil ich damals noch Sowjetbürgerin war und sie sich nicht getraut haben, eine Bürgerin der UdSSR anzufassen.“
Engagement: Galina Böttcher verfolgt die Massenproteste gegen Lukaschenko in Belarus 2020 von Beginn an. Seit 1994 ist Lukaschenko schon im Amt, nach der niedergeschlagenen Revolution vor vier Jahren regiert er mit noch härterer Hand als zuvor. „Jeden Tag werden weiterhin Menschen verhaftet, zum Teil gefoltert. Manche kommen nur deshalb in Haft, weil sie einen falschen Beitrag auf Social Media geteilt haben. Es ist so schlimm.“ Die belarussische Menschenrechtsorganisation Viasna zählt derzeit 1.284 politische Gefangene in dem 9-Millionen-Land. Böttcher ist mit vielen Regimegegner:innen befreundet, einige Freund:innen von ihr waren oder sind im Gefängnis.
Protest-Look: Seit 2020 hat Böttcher ihre Haare rot-weiß-rot gefärbt. „Ich trage die Frisur so lange, bis das Regime in Belarus fällt“, sagt sie. Schon 1994, als Lukaschenko ins Amt kam, habe sie zu ihrer in Belarus lebenden Mutter am Telefon gesagt: „Wie kann man nur so einen Blödkopf wählen. Er hat keine gute Bildung, er spricht sowohl schlecht Russisch als auch Belarussisch.“ Ihre Mutter habe geantwortet: „Aber er ist ein Mann des Volkes.“
Tattoo: Böttcher unterstützte 2020 die Politikerinnen Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo, die für einen demokratischen Wandel in Belarus antreten. Sie hat sich sogar ein Herz, eine Faust und ein Victory-Zeichen auf den Arm tätowiert, „obwohl ich Tattoos eigentlich nicht mag“. Es sind die Symbole, die die belarussische Frauen-Troika verwendet hat, zugleich ist es ein berühmtes Protestbild der belarussischen Künstlerin Tosia. „Die Zeichen stehen für: ‚Wir glauben, wir können es, wir werden siegen‘“, sagt Böttcher.
Katzenkunst: An der Wand hängen Bilder der oppositionellen Künstlerin Olga Yakubouskaya, einer Freundin. Yakubouskaya, die in Riga im Exil lebt, ist in Belarus und auf Instagram bekannt geworden, weil sie mit ihren Katzenbildern gegen die Repressionen in Belarus kämpft. Ein Bild im Wohnzimmer zeigt eine Katze mit weiß-rot-weißen Haaren, die ein weiß-rot-weißes Banner hochhält: ein tierisches Alias von Böttcher. Und noch ein anderes Gemälde hat ihre Freundin Olga extra für sie gemalt: Darauf ist Böttcher in wehendem weiß-roten Kleid mit Hut zu sehen. So, wie sie oft durch die Straßen läuft.
Das Museum: In ihrem Wohnzimmerregal hat Böttcher Accessoires und Gegenstände aufgereiht, die mit der belarussischen Protestbewegung zu tun haben. Ein T-Shirt, auf dem übersetzt „Ein Belarusse ist einem anderen Belarussen ein Belarusse“ geschrieben steht. Ein Fotoband versammelt Bilder von den Demonstrationen 2020. Lukaschenkos Regime hat das Buch benutzt, um Teilnehmer:innen zu identifizieren und zu verhaften, erzählt Böttcher. „Viele haben sich aufgeregt, dass dieser Band überhaupt veröffentlicht wurde. Aber hätten die Journalisten das ahnen können?“ Neben dem Regal hängt ein handgehäkelter Teppich, natürlich auch in den Farben der Opposition. Sie empfängt auch interessierte Besucher:innen in ihrem Heim-Museum.
Netzwerkerin und Multiplikatorin: Galina Böttcher bringt Menschen zusammen, die sich für ein freies Belarus engagieren, ist auf vielen Veranstaltungen zum Thema präsent, sammelt Spenden für Flüchtlinge. Über Social Media hält sie Kontakt nach Belarus. Sie lebt heute allein in Neukölln, beherbergt gelegentlich politische Flüchtlinge, die ins Exil gegangen sind und bei ihr ein paar Tage durchschnaufen können. Deutschland ist zu ihrer dritten Heimat geworden.
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