Die Wahrheit: Räudiges Schlamassel
Was tun, wenn der Hautarzt das Weite sucht, sämtliche Patientenakten hat verschwinden lassen und nicht mehr aufzufinden ist? Wohin mit der Pelle?
Als ich einen Termin machen will, ist mein Hautarzt auf einmal spurlos verschwunden. Im Netz steht „Dauerhaft geschlossen“, kein Patient wurde benachrichtigt oder weiß irgendwas. Unsere Krankengeschichten hat der Verschwundene mitgenommen, wohin auch immer, in den Untergrund, auf die Reise, in sein Grab. Was nun – wer heilt mich denn jetzt?
Hautärzte scheinen mir schon ein recht eigenes Völkchen zu sein. Hier wird eine Praxis ohne Vorwarnung zugemacht, da verschwindet ein Hautarzt als Prostituiertenmörder jahrelang hinter Gittern. Eine nichtendenwollende Pechsträhne scheint die gesamte Zunft ergriffen zu haben.
Die wenigen, die geblieben sind, können sich nun selbstverständlich die Rosinen aus dem leckeren Patientenkuchen picken. Auf der Suche nach Ersatz werde ich fast ausnahmslos abgewiesen: „Nur privat Versicherte oder Selbstzahlende“ wechselt sich ab mit dem Hinweis „Privatpraxis“.
Im Umkreis von zehn Kilometern nimmt keiner der wenigen verbliebenen Kassenärzte Neupatienten an, und wenn doch, dann frühestens in sieben Monaten. Keiner will mich haben, außer dem einen, der laut Patientenbewertungen praktisch der Teufel selbst sein muss. Ich versteh das nicht. Wäre ich Hautarzt, würde ich doch zusehen, dass möglichst viele Kranke kommen, die ich dann gesund machen kann – ein Stürmer will doch auch immer möglichst viele Tore schießen.
Rosa Traum
Hätte ich jedenfalls gedacht, in meiner kleinen rosa Einhorntraumwelt. Aber gut, was weiß ich denn schon. Wahrscheinlich lohnt sich das einfach nicht. Kassenpatienten sind wie Flöhe. Wo die sich eingenistet haben, wird man sie schwer wieder los. Denn einerseits ist deren Haut total kaputt – die schlechte Ernährung; die Lauge in dem Ätzwerk, wo sie arbeiten müssen; dazu die vielen Drogen –, andererseits zahlen die Armenkassen für das räudige Schlamassel kaum einen Almosen.
Und dann kommt das Lumpenpack auf der Tränendrüse angeritten, Folgetermin für Folgetermin, und quäkt rum – „huä, huää, ich bin immer noch voll krank“ und so –, aber für das Geld kann man da natürlich gar nichts machen, das reicht nicht mal für den Gnadenschuss, und deshalb ist es besser, sie kommen gar nicht erst. Manche werden ja auch von selbst wieder gesund. Andere sterben. Alles löst sich immer irgendwie.
Zart wie Butter
Wie von selbst behandelt sich im Vergleich die herrlich straffe Haut der Reichen und Schönen. Ihre von Austernsaft und sündhaft teuren Kosmetika butter-zart geschmirgelte Edelpelle zu untersuchen, ist wie ein Werk von van Gogh zu restaurieren, ein rassiges Rennpferd zu striegeln oder einen brandneuen Autobahnabschnitt zu weihen.
Die Zuständigkeit der Dermatologen auch für Geschlechtskrankheiten macht die Lage nicht besser. Denn wer möchte schon in dem ekligen Sifftripper von irgendwelchen AOK-Gossenknaben rumrühren. Das wäre ohnehin vergebliche Liebesmüh, denn am nächsten Tag stehen sie erneut laut schreiend mit ihrer nassen Muchte vor der Tür, och nö, jetzt muss schon wieder die Security kommen. Die Geschlechtskrankheiten der Privatversicherten sind hingegen sauber und duftend wie sie selbst. Da muss höchstens mal ein goldenes Zepter aus einem gesalbten Popo gezogen werden, wo es sich im edlen Liebesspiel verfangen hat.
Dass unter diesen Umständen ein Kassenarzt aus dem Beruf scheidet, um als Pförtner, Philosoph oder eben Prostituiertenmörder unter anderem Namen an anderem Ort noch mal völlig neu anzufangen, verstehe ich ja. Aber deshalb muss man doch nicht gleich mit meiner ganzen Anamnese abhauen – so sieht das wohl aus, wenn der gläserne Patient zerbricht. Selbst Diebe schmeißen ein leergeräumtes Portemonnaie oft in einen Briefkasten, sodass wenigstens die Papiere zurück zu ihrem Besitzer finden. Meine Unterlagen sind doch für andere wertlos. Ich will sie einfach bloß wiederhaben, ist das denn wirklich zu viel verlangt?
Am Ende gelingt es mir, einen Termin zu vereinbaren, indem ich behaupte, ich wäre Privatpatient. Dazu lege ich mir am Telefon extra einen französischen Akzent zu. Ich hoffe, wenn ich auffliege, schicken sie mich nicht einfach weg, weil das Zeitfenster ja gefüllt sein will. Doch ich habe Angst, dass mir die Lüge so schwer auf die eigenen Füße fällt, dass ich danach auch noch einen Unfallorthopäden brauche. Und dann geht der ganze Mist wieder von vorne los.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“
Wegen antisemitischer Postings
Urteil gegen Kurator:in