Fünf Jahre nach dem Anschlag in Halle: „Ein Schmerz, der uns zusammenhält“
İsmet Tekin und Valentin Lutset haben den Anschlag in Halle überlebt. Seither sind sie Freunde. Und kämpfen gemeinsam gegen den Hass.
smet Tekin: Valentin, schön dich wiederzusehen!
Valentin Lutset: İsmet, du lebst noch!
Es ist ein sonniger Herbstmorgen in Halle. Vor dem früheren Imbiss und heutigen Begegnungsraum Tekiez umarmen sich İsmet Tekin und Valentin Lutset, der extra aus Berlin angereist ist. Vor fünf Jahren geriet Tekin hier in den Schusswechsel zwischen der Polizei und einem rechtsterroristischen Attentäter.
Dieser hatte zuvor schwer bewaffnet versucht, die nur 500 Meter entfernte Synagoge zu stürmen, in der Lutset am jüdischen Feiertag Jom Kippur betete. Im Boden ist eine Metalltafel eingelassen: „Im Gedenken an Jana L. und Kevin S. und alle weiteren Opfer des antisemitischen Terroranschlags am Jom Kippur 5780 – 9. Oktober 2019 auf die Hallesche Synagoge und einen Imbiss.“*
taz: Herr Tekin, Herr Lutset, wann haben Sie sich zuletzt gesehen?
İsmet Tekin: Fast genau vor einem Jahr.
Valentin Lutset: Das war beim vorigen Festival of Resilience, das immer rund um den Jahrestag stattfindet. Ich sehe jedes Jahr, wie İsmet sich verändert, was er im Leben jetzt macht, wie seine Laune ist. Für mich ist sein Gesicht das Gesicht von Halle.
Tekin: Valentin hat sich nicht geändert.
Lutset: Bin ich nicht dicker geworden?
Beide lachen.
taz: Kann man sagen, dass Sie seit dem Anschlag Freunde geworden sind?
Lutset: Wir sind diese Freunde, die sich einmal im Jahr sehen, aber trotzdem für immer Freunde bleiben.
Tekin: Wir sehen uns eigentlich nur auf verschiedenen Gedenkveranstaltungen. Wir sind durch dieses Unglück zusammengekommen. Wir verstehen und respektieren uns. Und wir arbeiten und kämpfen zusammen.
Fünf Jahre zuvor, 12.01 Uhr. In der Synagoge begehen 52 Jüdinnen und Juden den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Es sind Gäste aus Berlin angereist, um mit der Halleschen Gemeinde zusammen zu beten, darunter Lutset und seine Frau. Plötzlich hören sie draußen einen lauten Knall.
Offiziell Am 9. Oktober ab 11.50 Uhr gedenkt die Jüdische Gemeinde in Halle im Beisein von Bürgermeister und Ministerpräsident des Anschlags. Um 12.03 Uhr läuten stadtweit die Kirchenglocken, der ÖPNV steht still. Der Bundespräsident reist an. Ab 17 Uhr findet das zentrale städtische Gedenken statt.
Selbstorganisiert Um 18 Uhr laden Tekiez-Initiative und Soligruppe 9. Oktober zum Gedenken vor dem Tekiez. Auch in Berlin gibt es um 17.30 Uhr eine Kundgebung. Am 13. Oktober eröffnet das Festival of Resilience in Halle, am 14. wird es in Berlin fortgesetzt. (taz)
Über die Überwachungskamera sehen sie einen mit Sprengsätzen und Schusswaffen bewaffneten Mann in militärischer Kleidung, der versucht, einzudringen. Es gibt keinerlei Polizeipräsenz vor der Synagoge. Doch der Angreifer kann die Holztür nicht überwinden. Eine Passantin spricht ihn an. Er erschießt sie. Ihr Name ist Jana L.
taz: Welche Rolle spielt der 9. Oktober 2019 fünf Jahre später für Sie?
Tekin: Es ist der Tag, der unser Leben für immer verändert hat. Der Tag, der immer weh tut, der Stress und Schwierigkeiten gebracht hat. Aber es ist auch der Tag, der uns durch unseren Schmerz zusammenhält. Wir müssen seitdem ein anderes Leben führen und das nicht freiwillig. Das ist nicht einfach.
Lutset: Es ist mir wichtig, dass wir Überlebende zusammenbleiben. Aber für mich bedeutet dieser Tag auch nur Grausamkeit. Diese Welt ist sehr unperfekt. Wir müssen trotzdem weiterkämpfen – das ist die Aufgabe, die uns Gott gegeben hat. Wir müssen uns aus einer schlimmen Situation heraus bessern. Aber ich scherze oft auch: Halle war der Start meiner kreativen Entfaltung.
40 Jahre alt, wurde in Eleşkirt in der Türkei geboren und zog 2008 nach Halle. Er arbeitet als Gastronom und gründete das Tekiez. Am 9. Oktober 2019 arbeiteten er und sein Bruder im Kiez-Döner.
taz: Inwiefern?
Lutset: Ich bin ein fauler Mensch. Aber damals ist etwas kaputtgegangen, also muss ich etwas Neues schaffen. Genauso wie man einen Tisch erst dann justieren muss, wenn er wackelt. Im Judentum nennen wir das Tikkun Olam, die Reparatur der Welt. Das gibt mir Energie.
taz: Wofür?
Lutset: Wir haben nach Halle das Festival of Resilience ins Leben gerufen, als Ort der Solidarität unter Betroffenen rechten Terrors. Dieses Jahr eröffnen wir es erstmals nicht in Berlin, sondern hier in Halle – mit dem Konzert „NachHall(e)“ am 13. Oktober. Dort werden wir ein Stück uraufführen, das extra für mich und mein Schofar geschrieben wurde …
35 Jahre, ist in Polen geboren und im russischen Sankt Petersburg aufgewachsen. 2005 zog er nach Deutschland. Er ist Musiker und Künstler in Berlin und arbeitet bei der Jewish Agency for Israel. Am 9. Oktober 2019 betete er in der Synagoge von Halle.
taz: … ein Schofar ist ein jüdisches Blasinstrument aus einem Widderhorn …
Lutset: … genau. Wir hoffen, dass die Veranstaltung allen etwas bringt. Aber, so egoistisch das klingt: Das ist auch meine persönliche Überwindung, endlich, nach fünf Jahren. Ich habe nicht so einen tollen Ort wie das Tekiez, an den ich jederzeit alle einladen kann …
Tekin: Doch, dieser Ort gehört auch dir. Wenn du etwas machen willst, kannst du gerne alle Leute einladen und wir machen, was du willst.
12.08 Uhr: Der Attentäter scheitert mit seinem Plan, in der Synagoge ein Massaker anzurichten. Er steigt in sein Auto und fährt eine Minute bis zum Imbiss „Kiez-Döner“. Dort wirft er Sprengsätze, dann eröffnet er das Feuer auf Passanten, die Gäste und die Angestellten des Imbisses, darunter Tekins Bruder Rıfat. Er tötet den Malergehilfen Kevin S., der dort seine Mittagspause verbringt. Von Polizeikugeln verwundet, steigt der Attentäter wieder in sein Auto und flüchtet. Dabei passiert er abermals die Synagoge.
taz: Herr Tekin, der frühere Besitzer des Kiez-Döner hat Ihnen und Ihrem Bruder den Imbiss nach dem Attentat überschrieben. Sie haben daraus das Tekiez gemacht, ein türkisches Frühstückscafé, das auch Erinnerungsort sein sollte. Im Mai 2022 musste das Café schließen. Warum ließ sich das Projekt nicht finanzieren?
Tekin: Diese Frage muss man nicht uns stellen, sondern der Politik, der Stadt Halle, der Landesregierung in Sachsen-Anhalt, der Zivilgesellschaft. Wir wollten hier Leute bedienen und unseren Lebensunterhalt bestreiten. Das ist leider nicht gelungen. Die Stadt hat uns viel weniger unterstützt, als sie versprochen hat. Viele Gäste sind weggeblieben, weil sie Angst haben wegen dem, was hier passiert ist. Aber wenn die Angst haben, was haben wir dann? Wir haben diesen schrecklichen Tag hier erlebt. Warum kämpfen wir hier dann überhaupt?
taz: Wie funktioniert das Tekiez heute?
Tekin: Träger ist jetzt der Friedenskreis Halle. Leider ist es so, dass wir Förderungen hinterherrennen müssen, damit wir unsere Fixkosten überhaupt decken, mit viel Hin und Her. Aber wir haben zwei Bundesförderungen für den Gedenkort bekommen, und dafür bin ich sehr dankbar. Bis 2025 ist das Tekiez als Gedenk- und Erinnerungsort sicher. Danach müssen wir weitersehen. Aber wir brauchen so einen Ort wie diesen hier.
İsmet Tekin
taz: Warum?
Tekin: Die Synagoge ist ein Gebetshaus. Da kann man sich nicht einfach zu jeder Zeit treffen. Nicht alle Überlebenden kommen aus Halle. Wenn zum Beispiel die Überlebenden aus Berlin in die Stadt kommen, haben sie hier immer einen Platz. Alle haben hier einen Platz.
taz: Hätten Sie sich mehr Unterstützung gewünscht?
Tekin: Ja, und es macht mich sehr wütend. Dieser Laden ist ein Ort für Demokratie, Widerstand und Solidarität. Und Halle hat nur diesen einen. Mein Bruder, ich und die Soligruppe 9. Oktober haben so viel Arbeit hier reingesteckt. Haben alles renoviert und neu gemacht, das meiste ehrenamtlich. Das Geld aus der Opferentschädigung, die ganzen 5.000 Euro, habe ich hier investiert. Wir haben tagtäglich Schwierigkeiten gehabt, diesen Ort zu erhalten. Und wir sind stolz, dass uns das bis jetzt gelungen ist, wenn auch in anderer Form.
In der Stadt herrscht Chaos. Der Täter ist auf der Flucht, die Polizei weiß nicht, ob es weitere Angreifer gibt. Im Internet tauchen ein Livestream und ein rechtsextremes Manifest des Attentäters auf. Dieser fährt unbehelligt bis ins 15 Kilometer entfernte Wiedersdorf. Auf der Flucht fährt er den Passanten Aftax I. an.
In Wiedersdorf verletzt er die Anwohner*innen Jens Z. und Dagmar M. schwer, um an ihr Auto zu kommen. Kurz darauf zwingt er den Taxifahrer Daniel W. mit vorgehaltener Waffe, ihm sein Fahrzeug zu überlassen. Mit seinem zweiten Wagen nimmt W. die Verfolgung auf und ortet den Attentäter. Der schafft es bis auf die Autobahn, fährt dabei direkt an einer Polizeisperre vorbei. Gefasst wird er letztlich, nachdem er auf der Autobahn einen Unfall verursacht hat. Es dauert vier Stunden, bis die Überlebenden die Synagoge verlassen dürfen.
taz: Wie haben Sie in den vergangenen fünf Jahren versucht, den Anschlag zu verarbeiten?
Tekin: Am Anfang habe ich eine Therapie gemacht, aber es hat nicht geholfen. Offenbar sind viele Therapeuten nicht auf unsere Situation spezialisiert. Ich kann nicht schlafen. Und höre: „Dann versuchen Sie doch mal, zu schlafen.“ Aber wie soll ich schlafen? Ich kann nicht. Deshalb habe ich nicht weitergemacht. Meine Therapie war dieser Laden, das Tekiez.
Lutset: Ich habe meine Therapieversuche auch immer abgebrochen. Dann wollte ich die Kunst zu meiner Therapie machen. Ich wollte eine Ausstellung zu Jom Kippur in Halle machen. Es gab zwei Versuche, die leider nicht zustande kamen. Das hat mich verbittert. Vielleicht bin ich auch einfach zu schlecht organisiert gewesen. Am Ende hat Musik mir mehr Ruhe für meine Seele gebracht.
taz: Inwiefern?
Valentin Lutset
Lutset: Ich habe mir sehr teure Kopfhörer gekauft mit dem Opferhilfe-Geld, das ich nach dem Anschlag bekommen habe. Das hat wirklich etwas gebracht. Und ich gehe regelmäßig in die Philharmonie.
taz: Der Anschlag hat damals bundesweit Bestürzung ausgelöst. Haben Politik und Gesellschaft seither dazugelernt?
Tekin: Hätte man etwas gelernt, würde man jetzt etwas tun dagegen, dass dieser Hass immer größer und kämpferischer wird. Nicht erst in den 5 Jahren seit dem Anschlag, sondern seit 40 Jahren und länger schreien Menschen tagtäglich, um auf diese Bedrohung aufmerksam zu machen. Das heißt für mich: Man hat uns Betroffene vielleicht gehört – aber uns nicht zugehört.
taz: Was hätte man dann gehört?
Tekin: Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit … das gehört alles zusammen in der rechtsextremen Ideologie. Das muss man mit Gesetzen bekämpfen. Aber es ist auch ein Problem für die Gesellschaft. Denn diese Leute wollen ja kein besseres Land und keine bessere Zukunft, sondern sie wollen etwas kaputtmachen. Mit Gewalt. Und Gewalt bringt niemandem etwas.
Lutset: Aber die denken, dass sie für etwas Gutes stehen. Für ein aus ihrer Sicht besseres Deutschland. Du denkst so, İsmet, und die denken anders. Die Frage ist: Was können wir dagegen tun, wenn das mit politischen Mitteln nicht möglich ist?
taz: Dieses Jahr wurden in Deutschland unter anderem drei ostdeutsche Landtage gewählt. Die extrem rechte AfD ist teilweise stärkste Kraft geworden.
Lutset: Genau deswegen sitzen wir ja heute hier und sprechen: Um wenigstens ein paar Leute davon zu überzeugen, dass man Zivilcourage zeigen muss. Wir sind so tief im Dreck, und wir müssen alle zusammen die Schaufel nehmen und uns da rausschaufeln.
taz: Welche Rolle spielte für Sie der Prozess gegen den Attentäter?
Tekin: Eigentlich gab es zwei Prozesse: den im Gerichtsgebäude und den davor. Während drinnen verhandelt wurde, haben solidarische Menschen draußen Kundgebungen abgehalten. Während der Pausen und am Ende der Prozesstage haben wir Nebenkläger draußen weiter geredet. Mir hat dieser Prozess viel Kraft gegeben, weil wir dort alle zusammen gegen diese schrecklichen gesellschaftlichen Strukturen gekämpft haben. Aber Gerechtigkeit hat der Prozess nicht gebracht – zumindest nicht für alle.
taz: Für wen nicht?
Tekin: Aftax I., der vom Täter auf der Flucht angefahren wurde, und ich mussten hart kämpfen. Ich wurde erst nicht als Nebenkläger zugelassen. Dabei hat der Täter klar gesagt, er will alle töten. Dabei war ich mitten im Schusswechsel zwischen ihm und der Polizei. Dabei hat er klar gesagt, dass er I. absichtlich nicht ausgewichen ist. Sich gegen diese Ungerechtigkeit zu wehren, hat so viel Kraft gekostet, während ich gleichzeitig um meinen Laden gekämpft habe.
Der Prozess gegen den rechtsextremen Attentäter beginnt am 21. Juli 2020 vor dem Oberlandesgericht Naumburg. Aus Sicherheitsgründen findet er im Landgericht in Magdeburg statt. 43 Überlebende und Betroffene treten als Nebenkläger*innen auf. Am 21. Dezember wird der Attentäter zu lebenslanger Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
Die antisemitische Dimension des Anschlags ist anerkannt, die rassistische nicht. Das Gericht erkennt die Angriffe auf Aftax I. und İsmet Tekin nicht als versuchten Mord an. Die beiden kämpfen weiter. Im April 2022 verwirft der Bundesgerichtshof ihr Revisionsgesuch.
taz: Herr Lutset, Sie wollten erst gar nicht als Nebenkläger im Prozess aussagen. Warum?
Lutset: Meine Frau und ich wollten uns davon abgrenzen. Wir waren schon so kaputt und hatten uns eigentlich damit abgefunden: Die Nazis sind überall, in jeder Minute kann dich jemand umbringen. Was soll man da noch machen? Aber dann waren alle unsere Freunde dort. Sie haben zusammen gelitten, aber auch zusammen gekämpft. Und am Ende habe ich mich von İsmets Kampf für Gerechtigkeit inspirieren lassen. (lacht, legt İsmet Tekin die Hand in den Nacken)
taz: Hat der Prozess Ihnen gegeben, was Sie sich erhofft hatten?
Lutset: Der Prozess war furchtbar für mich, danach war ich noch kaputter als vorher. Den Attentäter noch mal sehen und sprechen zu hören in diesem Prozess, wie er da so aufrecht saß und gegrinst hat …
Tekin: Wir Nebenkläger haben uns letztlich selbst geschützt dort. Wir haben immer geschaut: Geht es jemandem nicht gut? Was braucht derjenige, was können wir machen? Diese Solidarität ist für mich das Allerschönste.
Lutset: Es ist egal, wer dieser Täter ist: Er ist kein Einzeltäter. Aber trotzdem war es auch ein Schlussstrich für mich. Die Richterin hat allen frohe Weihnachten gewünscht. Da habe ich auf den Täter gezeigt und leise gesagt: Und auch für dich frohe Weihnachten. Er hat dann eine Mappe nach mir geworfen, und daraufhin haben die Beamten ihn in so einen Schmerzgriff genommen. Das war für mich Gerechtigkeit: Immerhin hat er uns jeden Tag im Schmerzgriff. Nur, dass unser Schmerz noch viel schlimmer ist.
Tekin: Wir Überlebende, wir haben nicht nur einen Anschlag erlebt, sondern mehrere. Was wir hören wollten, kam im Prozess nicht auf den Tisch: Wie konnte er sich bewaffnen? Wie kann es sein, dass angeblich niemand etwas bemerkt hat? Wie konnte die Polizei an diesem Tag so viel falsch machen? Gerechtigkeit hat dieser Prozess nicht gebracht. Trotzdem haben wir ihn selbst zu einer Art Therapie für uns gemacht.
taz: Herr Tekin, haben Sie seit dem Anschlag etwas gelernt über Antisemitismus?
Tekin: Ich hätte vor dem Anschlag nicht gedacht, dass Antisemitismus immer noch so verbreitet und so aggressiv ist. Ich dachte, die deutsche Gesellschaft hätte aus ihrer Geschichte gelernt und ihre jüdischen Mitglieder hätten zumindest heute ein bisschen Ruhe, nachdem sie schon so schreckliche Sachen erlebt haben. Aber das hat mir gezeigt: Es ist nicht verarbeitet und wir müssen eine Lösung dafür finden.
taz: Herr Lutset, haben Sie etwas über Rassismus gelernt?
Lutset: Ich habe gelernt, dass es für diese Menschen eigentlich gar keinen Unterschied macht, wen sie hassen. Für die gilt: Bist du so wie ich? Oder bist du anders? Das ist alles.
Im Januar 2024 steht der Attentäter abermals vor Gericht. Er hat im Gefängnis einen Fluchtversuch unternommen und dabei JVA-Angestellte als Geiseln genommen. Mit einer selbstgebauten Waffe zwingt er sie, mehrere Türen zu öffnen – wird aber letztlich von Sicherheitskräften überwältigt. Er wird zu weiteren sieben Jahren Haft verurteilt. Doch die Frage, wie so etwas geschehen kann, steht weiter im Raum.
taz: Sie haben sich mit den Überlebenden anderer Anschläge vernetzt, zum Beispiel in München oder Hanau. Warum ist Ihnen das wichtig?
Lutset: Wir wollen zeigen, dass dieser Terror nicht nur uns betrifft und auch, dass nicht nur wir diesen Kampf kämpfen. Wir sind vernetzt mit Opfern des NSU, aus Mölln …
Tekin: … aus der Keupstraße in Köln, aus Dortmund, Duisburg, Solingen … Menschen, die seit mehr als 40 Jahren kämpfen. Wir kommen zu den Jahrestagen oder schicken einander wenigstens Grußworte. Einer für alle, alle für einen. Und wir schauen, was wir voneinander lernen können, welche Stadt vielleicht auch was besser macht als andere beim Gedenken.
Lutset: Der Anschlag von Hanau ist nur wenige Monate nach dem in Halle passiert. Wir haben die Familien der Opfer zum Resilience-Festival eingeladen. Als dort dann Eltern gesprochen haben, die ihre Kinder verloren haben, dachte ich: Im Vergleich dazu ist uns doch eigentlich gar nichts passiert. Wir wollten, dass dieses Festival nicht nur ein jüdischer, sondern ein gesamtgesellschaftlicher Ort wird. Ich hoffe, dass wir das in Zukunft noch besser schaffen – überall.
taz: Hat der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der Krieg in Gaza an dieser Vernetzung etwas verändert?
Tekin: Nein. Nicht zwischen uns. Aber wir sehen natürlich die Auswirkungen. Es geht um Menschenleben, aber für manche geht es nur darum, die Menschen auseinander zu bringen.
Lutset: Und leider schaffen sie das ja. Ich arbeite bei der Jewish Agency for Israel und wir sehen deutlichen Zuwachs an Leuten, die nach Israel auswandern wollen. Nach dem 7. Oktober!? Die wollen von Deutschland nach Israel auswandern, weil sie sich dort sicherer fühlen. Ob das wirklich so ist, ist eine andere Frage. Aber das Gefühl, als Jude hier sicher sein Leben zu leben – diese Zeiten sind Vergangenheit.
*Auf der Plakette sind die Namen ausgeschrieben. Zum Schutz der Privatsphäre kürzen wir sie hier ab.
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