Frachtschiff „Ruby“ auf Abwegen: Das Problemschiff

Der russische Frachter „Ruby“ irrt durch Nord- und Ostsee. An Bord befindet sich hochexplosives Ammoniumnitrat. Experten wittern ein Kalkül Russlands.

Ein Frachtschiff in einem Hafen.

„Ruby“ beim Verlassen des Hafens von Tromsø, Norwegen, am 3. September 2024 Foto: Stian Saur/Nordlys/TT/imago

Wer hat schon Angst vor einem Schiff? Bei dem Frachtschiff „Ruby“ trifft das anscheinend auf eine ganze Menge Staaten zu. Aufgrund ihrer hochexplosiven Ladung gilt „Ruby“ derzeit als schwimmende Gefahr, der niemand zu nahe kommen will.

Mit etwa 20.000 Tonnen Ammoniumnitrat an Bord irrt der 180 Meter lange Frachter seit Wochen durch die Nord- und Ostsee. Am 22. August war „Ruby“ in der russischen Hafenstadt Kandalakscha unter maltesischer Flagge in See gestochen. Gemäß Logbuch soll die Fracht zu den Kanaren transportiert werden. Doch bereits kurz nach Verlassen des russischen Hafens zog sich das Schiff unter unklaren Umständen Schäden am Rumpf zu. Dennoch setzte „Ruby“ ihre Fahrt zunächst fort, bis die Besatzung die norwegischen Behörden wegen eines Sturms um Hilfe bat.

Von zwei norwegischen Schleppbooten wurde das Schiff am 1. September nach Tromsø eskortiert. Die Behörden vor Ort entdeckten zwar Schäden, erklärten es jedoch für seetüchtig. Es müsse sofort den Hafen verlassen, so die norwegische Polizei, die von ihm ausgehende Gefahr sei zu groß.

Die norwegische Schifffahrtsbehörde wies darauf hin, dass von „Rubys“ Fracht „durch äußere Einflüsse wie Arbeiten am Schiff ein ziemlich großes Risiko“ ausgehe. Auch Litauen, Dänemark und Schweden wiesen Anlegeanfragen des Schiffs aus Angst vor einer Katastrophe ab. Seither zieht „Ruby“ die Aufmerksamkeit europäischer Hafenbehörden, Wis­sen­schaft­le­r*in­nen und Po­li­ti­ke­r*in­nen auf sich, die allesamt darüber diskutieren, wie gefährlich sie nun tatsächlich ist.

Der Transport von Ammoniumnitrat, das hauptsächlich zur Herstellung von Düngemitteln verwendet wird, ist zunächst nichts Ungewöhnliches. Trotzdem weckt das Material berechtigte Ängste: Der norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik nutzte Ammoniumnitrat für seinen Terroranschlag im Osloer Stadtzentrum 2011. Bei einer Explosion im Hafen von Beirut 2020, die mehr als 200 Menschen das Leben kostete, waren 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat in Brand geraten. „Ruby“ transportiert fast das Achtfache dieser Menge.

Zwar betonen Spreng­stoff­ex­pert*in­nen, der Stoff sei schwer entzündbar. Doch angesichts der potenziellen Sprengkraft wollen die Anrainerstaaten kein Risiko eingehen. Laut Berechnungen sei sie vergleichbar mit „einer Atombombe der ersten Generation“, wie der Tagesspiegel titelte.

Teil eines größeren politischen Manövers?

Neben der Ladung stellt sich auch die Frage, ob „Ruby“ Teil eines größeren politischen Manövers sein könnte. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wird vor der sogenannten Schattenflotte gewarnt – einer Gruppe veralteter Schiffe, die unter Drittstaatenflagge russische Güter wie Öl oder Flüssiggas befördern, um westliche Sanktionen zu umgehen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Jacob Kaarsbo, Spezialist für transatlantische Sicherheit, hält es für sehr unwahrscheinlich, dass „Ruby“ nur Düngemittel transportiert. Stattdessen äußert er gegenüber dem dänischen Sender DR seine Vermutung, der Frachter könnte im Auftrag des Kremls unterwegs sein, um die Reaktionen aus dem Westen zu testen. Die Frage, die sich dabei stellt, sei zentral für die Strategie Russlands. Wie schnell und koordiniert reagieren die Nato-Staaten, wenn Gefahr naht?

Der Verdacht Kaarsbos basiert auch auf vielen kaum nachvollziehbaren Entscheidungen der Besatzung: Warum steuerte „Ruby“ nach ihrem potenziellen Unfall weiter auf die Nordsee zu, anstatt in einem russischen Hafen Schutz zu suchen? Warum musste sie unbedingt norwegische Gewässer ansteuern, wenn der Wind an jenem Tag laut Daten des Meteorologischen Instituts von Norwegen nicht außergewöhnlich hohe Geschwindigkeiten erreichte? Und ist es nur ein Zufall, dass das Schiff häufig an Orten vorbeifährt, die sich durch ihre Nähe zu wichtigen Nato-Basen, Ölfeldern und Offshore-Anlagen auszeichnen?

Kurz nach dem Passieren der norwegischen Stadt Bergen meldete die Besatzung der „Ruby“ den Totalausfall der Maschinen, was sie in einem der am meisten befahrenen See­gebiete der Welt manövrierunfähig machte.

Dazu kommt, dass „Rubys“ Ziele sich immer wieder ändern. Erst war es Las Palmas, dann Klaipeda in Litauen und jetzt Masaxlokk in Malta. Derzeit ankert das Schiff nördlich des Ärmelkanals und wartet auf Kraftstoff. Dann will es seinen Kurs gen Süden fortsetzen – auch wenn die maltesischen Behörden bereits angekündigt haben, dass „Ruby“ nur dann einen Hafen anlaufen dürfe, wenn ihre Fracht zuvor auf Schiffe außerhalb der maltesischen Gewässer umgeladen werde.

Ob „Ruby“ nun ein harmloser Frachter ist oder doch ein Versuch des Kremls, die westlichen Staaten zu testen, lässt sich womöglich nicht abschließend klären. Vielleicht ist das größte Risiko auch nicht die Explosion, sondern das Gefühl, sich von dem Schiff in die Irre führen zu lassen.

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