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Verletzte Taube auf StraßenbahnschienenDer letzte Flügelschlag

Ein hilfloses, todgeweihtes Tier zu retten, ist ein menschlicher Impuls. Aber ist es auch in jedem Fall richtig?

Als würde sie sich den Hals aus- und einrenken: eine Taube Foto: Jade/Unsplash

W ir stehen am Bahnsteig und warten. Neben uns verlaufen zwei Schienenstrecken, auf denen Straßenbahnen in unterschiedliche Richtungen fahren. „Was ist das?“, fragt mein Gesprächspartner. Wir hören ein scharfes ­Geräusch, es klingt unangenehm, gefahrvoll. Unsere Augen wandern: Woher kommt es? Da sehen wir auf dem Gleis vor uns zwischen den Schienensträngen eine Taube. Eine helle Taube. Eine Türkentaube.

Sie zappelt, schlägt mit ihren Flügeln, sodass sie über den Boden ratschen. Sie wirft ihren Hals vor und zurück. Es ist, als würde er sich aus- und einrenken. Hat sie sich das Genick gebrochen? Es tut weh zu sehen, wie sie sich so windet. Dann wird die Taube still. Die Bewegungen hören auf. Sie sitzt zitternd da.

Es ist klar, die nächste Straßenbahn wird sie erwischen. Ich suche im Handy nach der Nummer der Stadttaubenhilfe, einer Organisation, von der ich weiß, dass sie verletzte Tiere abholt. Doch in dieser Stadt finde ich keine.

Ich schaue die Straße hinauf und hinunter, es ist keine Bahn in Sicht. Kann ich es wagen, denke ich. Aber wie fasse ich sie an? Dann fällt mir etwas ein. Ich ziehe meine Jacke aus, leere die Taschen. Es ist eine weiche Wolljacke, meine Lieblingsjacke. „Sag frühzeitig Bescheid, wenn Du hinten an der Straße eine Bahn siehst“, sage ich zu meinem Gesprächspartner. Dann trete ich zu der Taube.

Als läge etwas Heiliges in meinen Händen

Ich gehe in die Hocke, umfasse das Tier vorsichtig mit meiner Jacke und hebe sie hoch. Die Jacke bleibt dabei fast an einem Zweig hängen, der aus dem Gleis wächst. Die Taube bleibt ganz ruhig. Es ist fast, als hätte sie darauf gewartet, dass sie jemand aufhebt.

Ich spüre durch die Jacke etwas Lebendiges. Etwas Warmes, Stimmiges, fast ist es, als läge da etwas Heiliges in meinen Händen. Ich habe noch nie eine Taube gehalten. Vorsichtig steige ich über die Schiene und trage sie auf ein gegenüberliegendes Rasenstück. Als ich die Taube auf dem Gras ablege, beginnt sie wieder zu zucken. Sie schlägt mit den Flügeln um sich, verdreht den Hals. Der Kopf zuckt, so dass ich kaum zuschauen kann. Dann plötzlich beruhigt sie sich wieder. Ihr Kopf rastet ein. Sie sitzt still da. Zu still.

Sie wird es nicht schaffen, denke ich. Sie wird sterben. Vielleicht müsste man sie erlösen. Aber das schaffe ich nicht. Die Fahrbahn ist frei. Ich gehe wieder über die Schienen zurück.

„Hattest Du keine Angst, dass sie dich beißt“, fragt mich der Freund. „Dass sie mit dem Schnabel zuschnappt?“ Komisch, denke ich. Daran hatte ich gar nicht gedacht. In dem Moment in meinen Händen schien die Taube so weit davon entfernt, mich zu verletzen. Aber ja, was hätte passieren können.

Wir steigen in die Bahn und fahren zu einem Konzert. Und noch später, als ich umhüllt von Musik und Menschen da stehe, denke ich an die Taube. An dieses Gefühl, als ich sie hielt. Wie warm und weich sie sich durch die Jacke anfühlte. Plötzlich treten Bilder vom Heiligen Geist in meinen Kopf, der so oft durch eine Taube, gehalten von Händen, dargestellt wird. Was war an dem Erlebnis so besonders? Wie es der Taube jetzt wohl geht?

Vielleicht ist es tatsächlich ja gar nicht so richtig, die Dinge in Ordnung bringen zu wollen

Später erzähle ich einer Freundin von der Taube: „Bist Du sicher, dass sie nicht gerade auf das Gleis wollte“, fragt sie und lacht etwas. „Vielleicht wollte sie ja sterben. Vielleicht hat sie sich ja den ganzen Tag dorthin geschleppt.“

Ich blicke sie an. Ja, warum nicht, denke ich dann. Erst einmal ist es eine bizarre Vorstellung. Aber auch eine, die mein Denken ­umstellt.

Vielleicht ist es tatsächlich ja gar nicht so richtig, die Dinge in Ordnung bringen zu wollen. Etwas zu retten. Und sich womöglich selbst sogar damit noch in Gefahr zu bringen.

Vielleicht stand die Taube auch für etwas ­anderes. Wir bringen eine Kraftanstrengung auf, um jemanden zu retten und auf die vermeintlich sichere Seite zu bringen. Doch wann ist das richtig? Vielleicht ist das ja gerade der Untergang. Für beide.

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Christa Pfafferott
Autorin
Christa Pfafferott schreibt die Kolumne "Zwischen Menschen" für die taz. Sie wurde zum Dr. phil. in art. an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg promoviert. Sie hat zuvor Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule absolviert. Sie lebt als Autorin und Regisseurin in Hamburg.
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7 Kommentare

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  • Die Taubenplage ist eine Katastrophe die der Mensch verursacht hat und die er auch wieder beseitigen muss.

  • Vielen Dank für diese Sichtweise! Mir geht es da recht ähnlich, dass ich zunehmend erkenne, dass Menschen kontrollieren wollen. Tiere, Pflanzen, die ganze Natur, andere Menschen uns selbst - alles wollen wir kontrollieren. Doch der Natur geht es am besten ohne Kontrolle.



    Und bisweilen reagieren dann Menschen über (wahrscheinlich weil alles so schlimm ist und wir so viel Zerstörung anrichten) und wollen JEDES Lebewesen beschützen und retten. Die Natur - das Leben - besteht nunmal aus Schöpfung und Zerstörung, aus Leben und Tod - Ohne Tod kein neues Leben. Und das, finde ich, ist zutiefst beruhigend. In unserer „Kultur“ nimmt es uns die Angst vor dem Tod und es fällt dann leichter, Kontrolle abzugeben. Und dann lassen wir im Herbst bewusst die abgestorbenen Pflanzen stehen, räumen nicht auf, damit die Insekten Lebensräume haben, lassen das Laub liegen, damit der Kreislauf der Nährstoffe erhalten bleibt.



    Wir retten essen, obwohl die Natur Übermassen produziert, von denen viele gar nichts wissen. Wir retten Tiere, obwohl in der Natur Massen getötet und verspeist werden. Und bestimmte Pflanzen setzen wir auf rote oder schwarze Listen oder verbieten deren Nutzung. Zeit loszulassen.

    • @Marc Seeger:

      Nur dass Stadttauben gar nicht "Natur" sind, sondern "Kultur".



      Ohne menschliche Zucht-Anstrengung würde es die Taube in der schieren Menge gar nicht geben.



      Also Tauben helfen, ist schon richtig. Nur aber auch nicht so, wie im Text dargestellt. Ein Tier zu retten, um es dann offensichtlich elend verrecken zu lassen, ist keine Hilfe. Wenn man die Taube aufhebt, dann übernimmt man auch Verantwortung und darf sie nicht zum Sterben auf die Wiese setzen.



      Wer aber bei allem immer die Augen verschließt, übersieht die Verantwortung, die man schon übernommen hat. Die Natur kommt am besten ohne Kontrolle aus. Aber wo der Mensch eingreift, da kontrolliert er auch. An diesen Stellen sind die roten und schwarzen Listen so wichtig. Um die Arten, für die wir verantwortlich sind, nicht einfach zum Sterben auf die Wiese zu setzen.

      • @Herma Huhn:

        Arten sterben aus und Arten kommen wieder. Das ist der Lauf des Lebens. Ob der Mensch nun eingreift und sich etwas anderes wünscht oder dies lässt, ändert nichts daran. Und statt die Natur kontrollieren zu wollen, wäre loslassen besser. Also mit der Natur und nicht von oben herab. Dazu muss man ihr zunächst zugestehen, auf Augehöhe zu sein. Aber wer in ihr bloß eine Produzentin und etwas über das man bestimmen kann, sieht ist nicht auf Augenhöhe mit ihr. Und das mit den Tauben oder den Listen ist dann sowas von ein Nebenschauplatz. Eine derartige falsche Sensibilität ist nur Ausdruck unserer (ausbeutenden) Beziehung mit der Natur.

      • @Herma Huhn:

        "Ohne menschliche Zucht-Anstrengung würde es die Taube in der schieren Menge gar nicht geben. "

        Glauben Sie mir, es liegt nicht an den Zuchtanstrengungen, die Tauben leben in den Städten im Schlaraffenland und haben so extrem viel Zeit sich zu vergnügen, ich hoffe Sie gestatten mir diese anthropozentrische Formulierung.

        • @0 Substanz:

          Tauben haben einen angezüchteten Brutzwang.



          Jeder andere Vogel brütet entweder einmal im Jahr oder hört auf zu brüten, wenn es zu voll wird.



          Die Taube kann das nicht.



          Und dabei geht es nicht ums Vergnügen, sondern darum, auf den Eiern auch hocken zu bleiben.



          Abgesehen davon, dass gesalzene Pommes für Tauben alles andere als Schlaraffenland darstellen. Die Tiere fressen, was sie kriegen können, weil nichts anderes da ist.



          Daher liegt es durchaus in der Verantwortung des Menschen, bei Tauben eine vernünftige Geburtenkontrolle in Form von Nistgelegenheiten mit ausgelegten Gipseiern zu betreiben. Aber die Städte zahlen lieber die Reinigung des Taubendrecks. Bin mir nicht sicher, was billiger wäre.

          • @Herma Huhn:

            Wenn jeder andere Vogel das Brüten nach Ihrer Vorstellung handhaben würde, sähe es schlecht um das Hühnerei zum Frühstück aus. Aber wahrscheinlich auch hier: Brutzwang.



            Jedoch stelle ich in meiner Umgebung fest, daß die Taubenpopulation immer dann unerträglich groß wird, wenn die Tierfreunde (fast immer weiblich, immer im fortgeschrittenen Rentneralter) ihrer Passion freien Lauf lassen. Die Taubenpopulation sinkt fast auf null, sobald diese ihr Lebensende erreicht hat und noch niemand in die Fußstapfen getreten ist.

            Da nutzt auch die sehr hohe Population der Baumhasel nichts, die gesunde Taubennahrung herstellt. Der Arbeitsaufwand an die Samen zu kommen ist einfach höher, als sich einen Kilometer weiter den Magen mit fetten Fritten vollzuhauen.

            Den Tauben das Leben zu erschweren indem Nahrung schwerer verfügbar gemacht wird, auch die Fritten, wäre vermutlich eine gute Möglichkeit der Evolution zu gestatten, so unsinnige Dinge wie einen angezüchteten Brutzwang auf dem Müllhaufen der sinnlosen Verhaltensweisen zu entsorgen.

            Noch eins, die Amsel - über jeden Verdacht erhaben jemals menschliche Eingriffe in ihr Brutverhalten gestattet zu haben - brütet trotzden 2-3 mal im



            Jahr.