Musik aus Bietigheim-Bissingen: Zwischen Sunshine und Sparsamkeit
Warum eine schwäbische Kleinstadt HipHop-Talente hervorbringt, beleuchtet eine Schau über Popmusik in Bietigheim-Bissingen seit den 1960ern.
Fünf Minuten. Kein Mensch braucht in Bietigheim-Bissingen so lange mit dem Auto von der McDonald’s Schnellrestaurant-Filiale bis zum Bahnhof. Die Wochenzeitung Die Zeit hatte das so behauptet, im Text „Aus Bi€tigh€im-Bi$$ing€n“.
Erschienen war dieser im Jahr 2019, anlässlich des damals neu veröffentlichten Albums „Drama“ vom Bietigheim-Bissinger Rapper Shindy. Jedes Kulturressort der Republik zerbrach sich zu der Zeit den Kopf darüber, was da los war, in jener Kleinstadt an der Peripherie von Stuttgart.
Zwei Jahre zuvor hatten bereits zwei andere Lokalhelden auf sich aufmerksam gemacht: Erst RIN mit seinen cloudigen Lyrics über Klamotten und Ljubav, kroatisch für Liebe, auch der zu seinem Heimatort; kurz danach kam der Schmuserapper Bausa und schoss mit seinem Song „Was du Liebe nennst“ ganz nach oben in die Charts und blieb dort erst mal.
Bislang unauffällig
Warum ausgerechnet Bietigheim-Bissingen? Wie konnte es sein, dass mit einem Mal gleich drei erfolgreiche Rapper aus derselben, bislang unauffälligen schwäbischen Ortschaft kamen? Und das dann auch noch thematisierten? Und nicht mal von dort wegwollten?
„BiBi Pop – von Beatighome bis Hip-Hop Town. 60 Jahre Musikgeschichte in Bietigheim-Bissingen“: Hornmoldhaus, Bietigheim-Bissingen. Bis 30. März 2025
Eben von jener Nahdistanz zwischen McDonald’s und Bahnhof ist in Shindys Track „Bietigheim Sunshine“ von dem Album „Drama“ die Rede, davon, dass er diese mit Kickdown zurücklege. Mit voll durchgedrücktem Gaspedal, in irrem Tempo also. Lohnt sich eigentlich kaum, siehe oben.
Wahrscheinlich war der Zeit-Autor, der darüber in seinem Texteinstieg schrieb, nicht extra angereist, sondern hatte per Google Maps recherchiert und sich dann irgendwo zwischen Poststräßle und Möbelhaus Hofmeister verfranst. Wo man gar nicht vorbeikommt. Das wissen alle, die in Bietigheim-Bissingen einmal gelebt haben. Oder so wie ich dort aufgewachsen sind.
Wie einst Camouflage oder Pur
Oder wie Shindy. Oder wie die Synthiepopper von Camouflage, die 1984 ihre ersten Auftritte bestritten. Oder wie die Schlagerpop-Barden von Pur noch etwas früher. Eine Frage der Zeit war es, bis die Stadt selbst einmal dieses merkwürdige, sich über die Genregrenzen und Dekaden gewucherte Pop-Cluster aufarbeitete.
Bietigheim-Bissingen hat rund 43.000 Einwohner*innen und liegt 20 Kilometer von der baden-württembergischen Landeshauptstadt entfernt. Es ist Sitz mehrerer Zulieferer der Automobilindustrie, Fabriken für Scheibenwischer unter anderem und schuldenfrei, seit Jahrzehnten.
Es gibt eine niedliche Altstadt, in der alle paar Meter eine Skulptur steht – jede davon in kommunalem Besitz –, eine Städtische Galerie, die einen Besuch wert ist, eine gepflegte Fußgängerzone und hübsch hergerichtete Fachwerkhäuser. In dem schönsten und größten davon, dem Hornmoldhaus, einem Bürgerhaus aus der Renaissance, befindet sich das Stadtmuseum. Und dort läuft seit einigen Wochen die Ausstellung „BiBi Pop“. Auf ganze 60 Jahre lokale Popmusikgeschichte blickt diese zurück.
Beathochburg Bietigheim-Bissingen
Die Idee für das Projekt entstand bereits 2020 auf Anregung eines engagierten Bürgers, wurde wegen der Corona-Pandemie aber zunächst verschoben – auf ein passendes Datum: 2024, 60 Jahre nachdem das schwäbische Pendant des Hamburger Star Clubs eröffnete und Bietigheim-Bissingen zur Hochburg der Beatszene avancierte.
Nach einem Aufruf im Lokalblatt wuchs „BiBi Pop“ immer weiter, kleinere Ausstellungen und diverse Veranstaltungen kamen hinzu, und eine fast 300 Seiten dicke Publikation, verfasst von einem langjährigen Redakteur der Lokalzeitung, Jörg Palitzsch, der selbst in den 1970ern als Jungspund einmal in einer Band mitgespielt hat.
Wer seine Jugend vor Ort verbracht hat, egal wann in den vergangenen 60 Jahren, für den entblättert sich in der Ausstellung ein Kaleidoskop von Erinnerungen, an Orte, Bands und Konzerte. Für alle anderen erschließt sich ein Stück westdeutsche Popgeschichte mit lokalen Besonderheiten, die aber exemplarisch für viele weitere Regionen steht.
Lokal penetrant, überregional relevant
Regionen, in denen sich in Partykellern, Musikschulen und Jugendzentren etwas von überregionaler Relevanz zusammengebraut hat oder noch braut. So wie an einer anderen Ecke des Stuttgarter Speckgürtels, etwa in Esslingen, im Komma, wo unter anderem die Noiseniks von Die Nerven an ihren Songs herumschraubten.
Möglicherweise ist es nämlich ein fataler Irrtum, dass Popmusik die Großstadt als Reibefläche braucht. Vielleicht kann vielmehr gerade die kehrwochige Beschaulichkeit eines Ortes Talente seiner Bewohner*innen erst recht hervorlocken; vielleicht, weil die behütete Provinzjugend zwischen Vorgärten und Bushaltestelle freier darin ist zu entscheiden, was cool ist, und viel dringender einen eigenen Soundtrack braucht als die hoch- wie subkulturverwöhnten Teenager aller Metropolen.
„Man ist in der Nähe von Stuttgart, aber doch relativ weit weg“, so formuliert es Catharina Raible, die Leiterin des Stadtmuseums. „Man verliert sich nicht, muss sich nicht groß sorgen, und man hat auch nicht die Konkurrenz, die man woanders vielleicht hätte. Es ist ein bisschen langweilig. Aber Langeweile fördert ja bekanntlich Kreativität.“
Dann setzte es drei Monate Hausarrest
Shindys Geschichte zieht sie als Beleg heran: In seiner Autobiografie „Der Schöne und die Beats“, 2016 erschienen, schildert dieser einen dreimonatigen Hausarrest, eine Strafe, die er mit 13 von seinen Eltern aufgebrummt bekam und während der er seine ersten 18 Songs komponierte.
Weil ihm so langweilig war. Wo die großen Acts nicht auftreten und die Popkultur, nach der man sich sehnt, nicht stattfindet, muss man eben selbst aktiv werden. Ähnliche Gründe wurden in den 1990ern dafür angeführt, warum Seattle wie aus dem Nichts so viele erfolgreiche Bands hervorbrachte. Und auch die kamen meist aus den Vororten.
Vorteil einer Großstadt ist traditionell ihre Infrastruktur, etwa örtliche Clubs, Labels und Tonstudios. Die Digitalisierung hat solche Einflussfaktoren minimiert, schließlich kann man seinen Kram jetzt einfach im Kinderzimmer produzieren und auf Social Media hochladen und so ein Publikum finden. Shindy etwa dockte schon in frühen Teenagerjahren über Foren an die HipHop-Szene an.
Das JuZe-Tonstudio als Sprungbrett
Bevor es das gab, waren lokale Jugendzentren wichtiger, die es Talenten erleichterten, sich auszuprobieren. Die Musikinitiative Neckar-Zaber (MINZ) war in Bietigheim-Bissingen so ein Sprungbrett, von dem man in Ausstellung und Buch erfährt. Und das Jugendhaus Farbstraße. Proberäume gab es dort und ein Tonstudio.
Noch wichtiger aber war, dass Bands dort auftreten konnten. Konzerte wurden in der Lokalpresse angekündigt, man ging oft hin, ohne überhaupt zu wissen, wer oder was da spielte. Wenn es einem nicht gefiel, hing man halt stattdessen am Kicker oder an der Theke herum. Nirvana hätte dort auftreten sollen, damals, Ende 1990, neun Monate vor der Veröffentlichung ihres Welthits „Smells Like Teen Spirit“, an der 3.000-Mark-Gage, die sie für ihren Auftritt haben wollten, sei das gescheitert.
Eigene Legenden wurden stattdessen geschaffen. Anfang der 1990er etwa – leider aus Notwendigkeit heraus – die Konzertreihe „Rock gegen Rechts“. Deren dritte Ausgabe am 28. August 1993 auf der Wiese am Berufsschulzentrum war mein erstes Konzert: italienischer Hardcore von Kina, Deutschpunk von Heiter bis Wolkig, Ska von No Sports. Ich war 11 und fand es großartig.
Das Gebäude wurde abgerissen
Über die Jahre fanden sich in der Farbstraße zahllose Hardcore-, später Metal-Bands. Oder auch die Indie-Band Elektrolochmann, musikalisch irgendwo zwischen Riot Grrrls und der Stuttgarter Variante der Hamburger Schule einzusortieren. 2012 wurde das Gebäude abgerissen.
Ein Parkplatz steht jetzt an seiner Stelle. Im neuen Jugendhaus gibt es zwar auch die nötige Infrastruktur, aber weniger Bands. Erst jetzt mit „BiBi Pop“ scheint die Attraktivität wieder zu steigen, erzählt Raible, sogar ehemalige Bands hätten wieder zusammengefunden.
„Bietigheim-Sunshine, wo das Gras grüner ist“, so lautet eine Textzeile aus „Bietigheim Sunshine“. Noch nicht mal übertrieben ist das. Im Bürgergarten, der sich an die Altstadt Bietigheims schmiegt, ist das Gras zweifellos grüner als auf den vertrockneten Wiesen großstädtischer Parkanlagen. Shindy ist kürzlich dennoch weggezogen. Nach München, aus persönlichen Gründen.
„Kuhkaff“ hat Rapper RIN einen Song auf seinem neuen, noch unveröffentlichten Album „Nostalgia“ genannt. Falls er Bietigheim-Bissingen damit meint, dann bestimmt liebevoll. Seit Anfang August ist er auch in einem Werbespot der Bausparkasse LBS zu sehen. Der Rapper als spießiger Musterschwabe, der sein Luxusleben zwischen Kaffee und Kuchen, Gartenzwergen, Minigolf und Aufsitzrasenmäher genießt. Bietigheim-Bissingen sei seine Wahlheimat, sagt RIN in einem Interview, das man sich in der Ausstellung anhören kann, es sei ja seine Wahl, dort zu bleiben.
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