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Die vierte Klatsche in einem Jahr

Bei den Grünen im Bund herrscht nach dem schlechten Abschneiden große Ratlosigkeit: mehr Abschieben – oder mehr Sozialpolitik?

Aus Potsdam und Berlin Stefan Alberti und Tobias Schulze

Die Wahlparty in Potsdam hatte Grünen-Chef Omid Nouripour am Sonntag früh verlassen. Zu feiern gab es ja nichts. Trotzdem klingt seine Stimme belegt, als er am Montagmittag in der Berliner Parteizentrale vor die Presse tritt. „Für uns alle sehr, sehr schwer“ sei der Vorabend gewesen, sagt er. „Das war eine sehr deutliche Niederlage für meine Partei.“ Weniger als 5 Prozent der Stimmen, kein Direktmandat, raus aus dem Brandenburger Landtag. Der Negativtrend setzt sich fort.

Die Gründe sind vielfältig. Nicht zuletzt ist laut Nouripour aber die Wahlkampfstrategie der SPD und ihres Ministerpräsident Dietmar Woidke schuld. „Das Wettrennen um Platz 1, ausgerufen von Herrn Woidke, hat allen anderen demokratischen Parteien Stimmen gekostet“, sagt er.

Noch verbitterter formuliert es auf einer Pressekonferenz in Potsdam der gescheiterte Spitzenkandidat Benjamin Raschke, der seine Jobs als Abgeordneter und Fraktionschef bald los ist. Woidke habe gewonnen, aber: „Der Preis war viel zu hoch.“ Durch den SPD-Wahlkampf sei „die Demokratie ein Stück weit unter die Räder gekommen“. Dass die Sozialdemokraten immerhin die AfD als stärkste Kraft verhindert haben? „Völlig egal.“ Platz 1 sei „nur fürs Ego von Dietmar Woidke wichtig“ gewesen.

Schon am Wahlabend war von Grünen immer wieder zu hören gewesen, Woidke habe das Land mit seiner Ich-oder-die-AfD-Strategie „erpresst“. Der in Brandenburg über Parteigrenzen hinweg äußert beliebte SPD-Chef hatte schon Anfang August angekündigt, sich zurückzuziehen, wenn die AfD vorne liege.

Tatsächlich ergaben die Wahlanalysen eine deutliche Wählerwanderung von den Grünen hin zur SPD. Laut Infratest Dimap geht es um knapp 50.000 Stimmen – mit Abstand der größte Verlust für die Grünen und, abgesehen von vorherigen Nichtwählern, auch der mit Abstand größte Zugewinn für die SPD. Die Frage ist aber, worin die Erpressung liegt. Die grüne Wählerschaft hätte ja auch der Argumentation ihrer Parteiführung folgen können. Demnach wäre ein Wahlsieg der AfD verschmerzbar und es wichtiger gewesen, die Grünen und das Thema Klimaschutz im Landtag zu halten.

Das sah die Wählerschaft merklich anders. Aus knapp 11 Prozent bei der Wahl 2019 und 8 Prozent in Umfragen noch in diesem April wurden nun 4,1 Prozent. Die Hoffnung, sich wie die Linkspartei vor drei Wochen in Sachsen über die sogenannte Grundmandatsklausel und einen gewonnenen Wahlkreis in den Landtag zu retten, zerfiel ebenfalls. Die 2019 in Potsdam erfolgreiche Direktkandidatin Marie Schäffer holte zwar mehr Stimmen als damals, lag aber prozentual dennoch deutlich hinter ihrer SPD-Konkurrentin.

Das Argument, taktisch zu wählen, um der AfD etwas entgegenzuhalten, hat auf Landesebene also zugunsten der Sozialdemokraten funktioniert – ist umgekehrt auf Wahlkreisebene für die Grünen aber nicht aufgegangen. Die Schuld für das Grünen-Debakel nur auf Woidkes Strategie zu schieben, greift damit zu kurz.

Was macht die Partei selbst also falsch? Eine große offene Debatte darüber bricht am Tag nach der Wahl nicht aus. Ratlosigkeit ist bei den Grünen zu spüren, vielleicht auch eine gewisse Müdigkeit nach der vierten Wahlniederlage dieses Jahres. Diejenigen, die sich zu Wort melden, tun dies vor allem mit bekannten Forderungen.

„Ich würde dazu raten, die Schuld nicht vor allem bei anderen zu suchen. Das hilft ganz selten“, sagt Landwirtschaftsminister Cem Özdemir am Rande eines EU-Treffens in Brüssel. Bis zur Bundestagswahl bleibe ein Jahr, diese Zeit müssten die Grünen nutzen und sich hinterfragen: „Wir müssen dafür sorgen, dass wir in der Sicherheits- und Migrationspolitik als Teil der Lösung betrachtet werden, damit uns die Leute bei anderen Themen wie Klimaschutz zuhören“, sagt der Realo Özdemir, der als designierter Ministerpräsidentenkandidat um seine Wahlchancen in Baden-Württemberg bangt. Anderen in der Partei gehen aber schon all die Asylrechtsverschärfungen zu weit, die die Grünen in den vergangenen Jahren mitgetragen haben. Auf dem Parteitag im November könnte es mal wieder zur offenen Auseinandersetzung darüber kommen.

Wie schon nach den letzten Wahlniederlagen gibt es aber auch Grüne, die auf Umfragedaten verweisen, denen zufolge die soziale Sicherheit das entscheidendste Thema war. In einem Papier, über das am Montag zuerst der Spiegel berichtete, schreibt der Europaabgeordnete Rasmus Andresen vom linken Parteiflügel: „Anstatt sich an rechten Diskursen abzuarbeiten, wird es Zeit, eine eigene Agenda ins Zentrum zu stellen.“ Er fordert unter anderem einen Mindestlohn von 16 Euro, einen bundesweiten Mietendeckel und einen „Bund-Länder-Pakt für mentale Gesundheit“.

Grundsätzlich sind Verteilungsfragen aktuell auch im Realo-Flügel wieder stärker im Kurs. Parteichef Nouripour fordert am Montag auf seiner Pressekonferenz zum Beispiel Fortschritte der Ampel-Koalition im Wohnbereich als „zentrale Frage der Gerechtigkeit und Inflation in den Ballungszentren“. Dann verweist der Parteichef noch auf die Analysen, die der Bundesvorstand schon im Sommer nach der verlorenen Europawahl vornahm. Auf dem Weg zur Bundestagswahl wolle man den Leuten besser zuhören und verstärkt auf Dialogformate setzen, hießen die Lehren unter anderem. Präsenter werden wollten die Grünen auch auf Tiktok, dem sozialen Netzwerk, in dem bisher vor allem die AfD punktet.

Das alles, so Nouripour, gelte immer noch. Einiges sei auf den Weg gebracht. Aber: „Es ist nicht über Nacht zu machen.“

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