Überleben im Gazastreifen: An die Wand des Wassertanks klopfen
Unser Autor in Gaza erzählt von einer palästinensischen Geschichte und fragt: Wie können Palästinenser sich Gehör verschaffen und den Tod verhindern?
E s gibt eine berühmte palästinensische Geschichte, die von Menschen erzählt, die sich in einem Wassertank versteckten. Als sie starben, gaben alle ihnen die Schuld, weil sie nicht an die Wand des Wassertanks geklopft hatten. Warum klopfen wir hier in Gaza nicht an die Wand des Wassertanks?
Für einige hier in Gaza ist klar, dass wir dies bereits tun. Dass die Schreie, die Toten und die verstümmelten Körper vor den Augen der Welt unsere Weise sind, an den Wassertank zu klopfen. Aber die Außenwelt hat ihre eigene Wahrnehmung von den Menschen in Gaza und von ihrer Reaktion auf das, was ihnen widerfährt. Viele denken, dass wir uns gegen die Regierung von Gaza erheben und sie stürzen sollten. Und es stimmt ja: Die Regierung hat den Palästinensern Unrecht getan, aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Erhebung.
Der Krieg wird nicht nur den Palästinensern aufgezwungen. Wenn ein Mensch getötet oder gefoltert wird, müssen nach islamischem Glauben alle anderen ihm beistehen und versuchen, ihn vor dem Tod zu bewahren. Auf diese Weise richtet sich der Krieg nicht nur gegen die Palästinenser. Die Welt muss ihnen helfen, ihnen beistehen und ihre Tötung verhindern. Dieser Krieg wirft die Frage neu auf, was es bedeutet, Mensch zu sein. Ein Mensch im Abstrakten, ohne Rücksicht auf Nationalität oder Klasse.
Was bedeutet es, Mensch zu sein?
Klopfen wir genug an die Wand? Nein! Wir müssen nicht nur an die Wand klopfen, wir müssen sie durchbrechen. Aber wie? Die Menschen in Gaza sind auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben, das sie durch die Aggression verloren haben. Die Menschen suchen nach Seife, um ihre Körper und ihre Kleidung zu waschen. Reinigungsmittel werden seit Monaten nicht mehr geliefert, und die vor Ort hergestellten Produkte sind nicht ausreichend.
Die Menschen suchen nach Shampoo, um ihre Haare zu waschen, nach einem sauberen Bad und Wasser, nach Schuhen, um die abgenutzten zu ersetzen. Sie suchen nach sauberen Straßen, in denen nicht an jeder Ecke Abwässer anfallen, die sie daran hindern, eine halbe Stunde zu Fuß zu gehen, um frische Luft zu atmen.
Ich lege jeden Tag weite Strecken zu Fuß zurück, weil es manchmal schwierig ist, sich fort zu bewegen. Obwohl es viele von Eseln gezogene Karren gibt, fahre ich nicht immer mit ihnen. Ich leide seit Beginn der Aggression an Hodenschmerzen und sollte wegen einer Varikozele operiert werden.
Vor zwei Tagen beschloss ich, mich operieren zu lassen, aber nach einigem Überlegen habe ich meine Entscheidung wieder zurückgenommen. Die Krankenhäuser im Gazastreifen leiden unter einem erheblichen Mangel an medizinischen Hilfsmitteln; und ich habe Angst vor der kontaminierten Umgebung, die durch die ständigen Bombardierungen entsteht. Ich könnte mir eine Infektion oder Entzündung einfangen, und unter diesen Bedingungen wäre es schwierig, eine Behandlung zu bekommen. Also werde ich die Schmerzen ertragen, bis ich mich in Gaza oder außerhalb operieren lassen kann.
Es gibt einen Freund, der mich jeden Tag begleitet, wenn ich auf die Straße gehe, um zu atmen. Ich liebe es, das Zelt zu verlassen und eine Viertelstunde oder eine halbe Stunde zu gehen, um alles um mich herum zu spüren – die Luft, den Boden, die Olivenbäume. Ich fühle mich durch die Anwesenheit unserer Identität um uns herum getröstet; mit uns gemeinsam hält sie sich dennoch aufrecht. Dieser Freund ist mein abgenutzter Schuh.
Mein Schuh ist müde und will aufgeben
Er hat mich zehn Monate lang begleitet, aber vor einigen Monaten begann er sich aufzulösen. Bei den häufigen Spaziergängen auf den Straßen der Stadt hat er Risse bekommen. Er hat sich oft verlaufen und neue Wege kennengelernt, aber jetzt fühlt er sich müde und will aufgeben.
Ich habe an vielen Orten nach einem neuen Schuh gesucht, aber ich konnte meine Größe nicht finden. Mein Schuh hat all meine Geschichten der letzten Monate miterlebt – all die schwierigen Zeiten, in denen ich vor den Panzern floh, in denen ich mich flach auf den Boden legte, um dem Feuer der Besatzungsflugzeuge zu entgehen, und in denen ich nach einem neuen Ort suchte, an den ich fliehen könnte.
Wir versuchen hier, unser Leben wie jeder normale Mensch zu leben: zu schlafen, zu arbeiten, eine Familie zu gründen und Kinder zu großzuziehen. Aber die Besatzung hat uns die Schuhe weggenommen und uns gezwungen, barfuß unseren Träumen entgegen zu gehen, mit unseren verwundeten Füßen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen