attentat in solingen
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Ein Anschlag auf die Vielfalt

Nach dem mutmaßlich islamistischen Anschlag in Solingen mit drei Toten kämpft die Stadt mit den Folgen: Unter den Bewohnern wächst zunehmend die Unsicherheit, und viele befürchten außerdem eine Instrumentalisierung des Messerangriffs durch Rechtsextreme

Kaum zu glauben: Kirchplatz am Sonntag vor der evangelischen Stadtkirche in Solingen Foto: Andr/Funke Foto/imago

Aus Berlin und Solingen Kersten Augustin
, Yağmur Ekim Çay
, Konrad Litschko
und Svenja Schlicht

Am Sonntagnachmittag ist der Tatort noch immer abgesperrt. Am Boden vor dem Fronhof in Solingen liegen Blumen und Kerzen. Auf einem Schild steht: „Warum?“ und „Du bist nicht allein.“ Von dem „Festival der Vielfalt“ und der ausgelassenen Stimmung, die hier herrschte, ist nichts mehr zu spüren. Solingen steht nach dem Anschlag unter Schock. Und während mehr Details über den Täter bekannt werden, sorgt sich die Zivilgesellschaft auch, dass der Anschlag nun für Hetze missbraucht wird.

Am Freitag waren Hunderte Menschen in der Innenstadt versammelt, um das 650-jährige Jubiläum ihrer Stadt zu feiern. Während eines Bandauftritts am Fronhof ging ein Mann mit einem Messer auf die Feiernden los und stach wahllos auf sie ein. Er tötete drei Menschen und verletzte acht weitere, fünf davon schwer. Sofort nach der Tat ergriff er die Flucht und warf die Tatwaffe in einen Mülleimer.

Suzan Köcher ist mit ihrer Band mitten in ihrem Auftritt, als sie bemerkt, wie die Stimmung kippt. Der taz und anderen Medien hat sie ein Statement geschickt: „Wir hatten gerade die letzte Note unseres vorletzten Songs gespielt, da ist mir plötzlich aufgefallen, dass die Leute fluchtartig den Platz verlassen.“

Als sie Menschen schreien hört, sucht sie sich Schutz. „Wir wussten nicht, auf wen es der Angreifer abgesehen hat und ob es sich um ein Messer oder eine Schusswaffe handelt, weshalb ich mich so flach hingelegt habe, wie es geht. Von der Tat selbst habe ich nichts gesehen“, schreibt die Sängerin. „Ich bin unglaublich traurig. Wir haben mit unserem Publikum getanzt und uns treiben lassen. Sekunden später haben Menschen ihr Leben verloren und hunderte weitere Leben haben sich schlagartig verändert.“

In der Nacht auf Sonntag konnte die Polizei den mutmaßlichen Messerangreifer festnehmen: ein 26-jähriger Syrer, Issa al-H. Laut Ermittlungsbehörden stellte er sich einer Polizeistreife und gestand die Tat. Fast zeitgleich hatte die islamistische Terrorgruppe „Islamischer Staat“ die Messertat für sich reklamiert. Inzwischen hat die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen übernommen. Gegen der Syrer wurde ein Haftbefehl erlassen. Nach taz-Informationen hatten Sicherheitsbehörden zunächst keine Erkenntnisse, ob und wie Issa al-H. in direktem Kontakt zum IS stand. Die Terrorgruppe hatte erklärt, dass der Täter „ein Soldat des Islamischen Staates“ sei. Er habe die Tat „als Rache für die Muslime in Palästina und überall“ ausgeführt.

Erst im Mai hatte ein Messerangriff eines 25-jährigen Afghanen auf eine Kundgebung des Anti-Islam-Aktivisten Michael Stürzenberger in Mannheim für Bestürzung gesorgt. Ein Polizist wurde dabei getötet. Vor gut einem Jahr hatte ein Islamist in Duisburg einen Mann mit einem Messer getötet und vier weitere verletzt. 2021 hatte ein 27-Jähriger in einem ICE in Bayern auf drei Menschen eingestochen, 2020 ein 20-Jähriger in Dresden einen Mann erstochen und seinen Partner verletzt. Auch diese Taten wurden als islamistisch eingestuft.

Laut Medienberichten soll Issa al-H. bei der Festnahme blutverschmierte Kleidung getragen haben. Nach taz-Informationen fiel er bisher nicht extremistisch auf. Der 26-jährige war Ende 2022 nach Deutschland gekommen und hatte als Syrer zunächst einen subsidiären Schutzstatus erhalten. Im vergangenen Jahr sollte er nach Bulgarien abgeschoben werden, wo er zuerst in der EU eingereist sein soll. Am Abschiebetermin konnte er aber nicht angetroffen werden. Zuerst hatte die Welt darüber berichtet. Das Fest in Solingen war kurz nach der Tat abgebrochen worden, in der Stadt herrschte Entsetzen.

Daniela Tobias von der Bürgerinitiative „Solingen ist Bunt statt Braun“ beobachtet, wie Menschen das Motto der Jubiläumsfeier nun zum Anlass nehmen, um den Anschlag politisch zu instrumentalisieren. „Schon wenige Minuten nach dem Anschlag kamen die ersten E-Mails bei uns an. Auf Begriffen wie Vielfalt oder Klingenstadt wurde sofort rumgeritten“, sagte Tobias der taz.

Für Sonntagabend (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) hat die Junge Alternative, die Jugendorganisation der AfD, unter dem Motto „Remigration rettet Leben“ eine Kundgebung auf dem Kirchplatz angemeldet. Dieser liegt unmittelbar in der Nähe des Tatorts und auch der Flüchtlingsunterkunft, in der der Täter lebte.

Eine antifaschistische Kundgebung ist deshalb zeitgleich zwischen der Flüchtlingsunterkunft und der rechten Demonstration geplant. „Wir wollen uns schützend vor die Unterkunft stellen“, sagt Daniela Tobias. die die Kundgebung mitorganisiert. Die Zivilgesellschaft in Solingen sei stark, sagt sie. Aber man habe auch die Bilder vom Brandanschlag 1993 im Kopf, bei dem fünf Menschen von Rechtsextremen ermordet wurden. „Wir haben Angst vor englischen Verhältnissen“, sagt Tobias mit Blick auf die rechtsextremen Ausschreitungen in Großbritannien vor wenigen Wochen. Das Motto der antifaschistischen Demonstration trage deshalb den Namen: „Pogrome verhindern, bevor sie entstehen“.

Auch in den kommenden Tagen dürfte die Stimmung in Solingen angespannt bleiben. Für Montag hat der „Solinger Widerstand“ – ein Sammelbecken für Impfgegner und Rechtsextreme – mit Plakaten in der Stadt zu einer Demonstration aufgerufen.

In der Stadt herrscht ein Gefühl der Unsicherheit. „Dieser Mensch, der das getan hat, hat sich gegen Vielfalt gerichtet“, sagt Tobias. „Jetzt werden wir von zwei Seiten in die Zange genommen.“

„Wir haben Angst vor englischen Verhältnissen“

Daniela Tobias, Bündnis Bunt statt Braun

Es ist diese Unsicherheit, die auch den Pfarrer Thomas Förster von der evangelischen Kirche bewegt. „Viele Menschen können noch gar nicht wirklich sortieren, was passiert ist“, sagte er der taz. Die Kirche hat nach dem Anschlag eine Notfallseelsorge für die Betroffenen des Anschlags eingerichtet.

Am Sonntagmorgen fand in der Stadtkirche ein Trauergottesdienst statt, sie grenzt direkt an den Tatort. Wegen der Absperrungen mussten die Trauernden die Kirche durch einen Nebeneingang betreten. Die Kirche war voll, einige Dutzend der etwa 700 Trauernden mussten stehen. Am Samstagabend kamen bereits 1.500 Menschen zu einer Gedenkveranstaltung auf dem Neumarkt zusammen.

Förster sagt, es sei „bitter, dass Menschen diese schreckliche Tat nun instrumentalisieren, um gegen Vielfalt zu sprechen“. Er hofft auf den Zusammenhalt seiner Mitbürger. „Ich wünsche mir, dass wir das als Stadt gemeinsam durchstehen“, sagt der Pfarrer.

Einen Bericht über die rechten Demonstrationen und Gegendemonstrationen lesen Sie auf taz.de