: Der Horror der sogenannten Liebe
Verwirrend neuer Blick auf den Klassiker: Das Gefängnistheater AufBRUCH inszeniert Goethes Faust in der Jungfernheide
Von Katja Kollmann
Am 275. Geburtstag vom Herrn Geheimrat Goethe klappt es immer noch nicht mit Fausts ersten Annäherungsversuchen an Gretchen. Die formt ihre Finger zu einem kraftvollen „Fuck you“ und verschwindet im Urwald in der Jungfernheide. Einmal im Jahr wird dort die Gustav-Böß-Freilichtbühne aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Das Gefängnistheater AufBRUCH bespielt diesen Ort seit vier Jahren mit einem Ensemble aus Freigängern und Ex-Inhaftierten. Die Natur wird so weit wie nötig gebändigt, damit die immer wieder neu verwendete Bühnenbrücke Platz findet und auf den alten hölzernen Zuschauerbänken nicht nur die Füchse Platz nehmen.
Zum ansatzrunden Klassikerjahrestag spielt AufBRUCH „Goethes Faust“. Man bedient sich dazu beim Urfaust und bei Faust. Der Tragödie Erster Teil. Heinrich kriegt auch diesmal Gretchen rum und es kommt zur allbekannten Katastrophe: Gretchen wird zur Mutter- und Kindsmörderin. Sie endet im Kerker. Faust will sie retten, aber sie reißt sich von ihm los und begeht Selbstmord. Nix mit Rettung durch Gott oder ein anderes überirdisches Gericht. Der Schlussakkord von Faust Eins ist auch wirklich von vorgestern, der neue hingegen plausibel. Goethes Sprache erhält ihren ganz eigenen Charme in der behutsamen und gleichzeitig kraftvollen Interpretation durch die Spielenden. Der Prozess ihrer Aneignung ist in der Darstellung spürbar.
Faust changiert zwischen Masse, Trio und Individuum. Fausts erster Kontakt-Anbahnungsver-such wird von einem Faust-Chor performt. Die ins nationale kulturelle Gedächtnis eingegangene Sentenz vom schönen Fräulein, dem Arm und Geleit angeboten wird, entlarvt so das ihr inne liegende Bedrohungspotential. AufBRUCH-Regisseur Peter Atanassow streut gerne Chorinseln in seine Dramatik-Bearbeitungen ein. Oft bringt er so Fremdtexte unter, die die Textgrundlage konstruktiv ergänzen. Diesmal gelingt durch die chorisch gesprochenen Originaltext-Passagen ein verwirrend neuer Blick auf diesen Klassiker. In gut hundert Minuten Spielzeit ändert sich Fausts Konsistenz im fliegenden Wechsel, was Faust jegliche Eindeutigkeit nimmt und dem Betrachter auf der Holzbank eine ständige Neupositionierung zu der Figur abverlangt.
Durch eingestreute Textbausteine von Rolf Hochhuth, Manfred Karge, Irwin Welsh und Elfriede Jelinek (Dramaturgie: Franziska Kuhn, Hans-Dieter Schütt) lenkt AufBRUCH den Blick auf Faust als eigentlich Entwurzelten, der sich durch sein existentielles Erkenntnisstreben von der Mehrheitsgesellschaft abgesondert hat, und knüpft so Verbindungen zur Gegenwart. Die Mehrheitsgesellschaft-Gruppenszene mit Synchron-Saufen, Fausts Osterspaziergang entlehnt, führt exemplarische Ausschluss-Mechanismen in einer Klarheit vor, dass einem das Blut gefriert.
Mephisto tritt zuerst im Trio oder dann immer mehr als Solist auf. Nehad Fandi gibt ihm eine Abgeklärtheit, die extrem lässig rüberkommt. Demonstrativ verzichtet er auf alles Dämonische, das macht die Figurenzeichnung extrem spannend. Die ins temporäre Ensemble geholte Schauspielerin Juliette Roussennac widmet sich „ihrem Gretchen“ mit ehrlicher Zuneigung, und gibt so der Figur eine diskrete Poesie, die berührt. Gretchens finaler Selbstmord ist hier der einzig mögliche Befreiungsschlag, um der emotionalen Abhängigkeit zu entkommen. Irgendwann grölt das gesamte Ensemble „Dich zu lieben“ von Roland Kaiser. Hinter dem Kitsch kriecht der Horror hervor. „Heinrich, mich schaudert's vor dir“, denkt man in sich rein und lenkt den Blick lieber auf den Jungfernheide-Urwald.
Nächste Vorstellung am 4. September
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