: Keine Zeit für überkommene Vorstellungen
Husum ist der Geburtsort von Margarete Böhme. Anfang des 20. Jahrhunderts war sie als Romanautorin weltbekannt, das NS-Regime sorgte dann für ihr weitgehendes Vergessen. Jetzt erinnert eine Ausstellung an sie und drei weitere Bohème-Pionierinnen
Von Anton Maegerle
Husum an der schleswig-holsteinischen Westküste ist auch ein literarischer Ort. So verbindet man mit der Hafenstadt an der Nordsee ihren berühmtesten Sohn, den 1888 verstorbenen Dichter Theodor Storm. Kaum bekannt ist die ebenfalls im – Storm zufolge „grauen“ – Husum geborene Margarete Böhme (1867 – 1939). Die Romanautorin zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen Deutschlands, war eine äußerst produktive sozialkritische Autorin: Über 40 Romane und Erzählungen von ihr gingen in Druck. Sie schrieb über Armut, Ausbeutung, über Prostitution und über die Leben arbeitender Frauen – Jahre bevor 1918 Frauen in Deutschland das Wahlrecht erhielten.
Die Autorin ist eine von vier Schriftstellerinnen, denen die Ausstellung „Frei leben! Frauen der Boheme 1890–1920“ gewidmet ist: In der Dachgalerie des Schlosses vor Husum nähert sich der Museumsverbund Nordfriesland der Frauenbewegung um das Jahr 1900 und dem Leben in München-Schwabing. Schwabing, das war damals ein Sammelbecken von Kritiker:innen bürgerlicher Lebensauffassungen und -formen, die sich nach einem freien und selbstbestimmten Leben sehnten – ein Hotspot der Bohème. Offen positionierten sich Angehörige dieses Kreises gegen die gesellschaftlich festgeschriebenen Moralvorstellungen, Autoritäten und Rollenerwartungen.
Das Schloss vor Husum, wo die Schau zu sehen ist, ist der Geburtsort Franziska zu Reventlows; die 1918 im Alter von 47 Jahren Verstorbene wiederum hatte Schwabing zu ihrer Heimat gewählt. Nachdem sie früh mit ihrer adeligen Familie und den dazugehörigen Konventionen gebrochen hatte, führte die Schriftstellerin in München dann ein selbstbestimmtes Leben – als unverheiratete Mutter. Franziska zu Reventlow, Margarete Beutler und Emmy Hennings, das waren die drei Hauptpersonen dieser ursprünglich in München konzipierten Ausstellung; dahintersteht Monacensia, das erklärte „literarische Gedächtnis Münchens“. In Husum wurde sie erweitert, eben, um die Biografie Margarete Böhmes.
Wilhelmine Margarete Susanna Feddersen, so hieß sie bis zur Hochzeit 1894, ihrer ersten Hochzeit, um genau zu sein, veröffentlichte mit 17 Jahren ihre erste Erzählung in einer Hamburger Zeitung. Es folgten feuilletonistische Beiträge für deutsche und österreichische Blätter.
Der literarische Durchbruch gelang der mittlerweile in Berlin lebenden, freien Schriftstellerin und geschiedenen, alleinerziehenden Mutter 1905: Ihr „Tagebuch einer Verlorenen. Von einer Toten“ wurde ein Welterfolg – und sie selbst zu einer der meistgelesenen Schriftstellerinnen jener Zeit. Der gesellschaftskritische Roman schildert die Lebens- und Leidensgeschichte einer Apothekertochter aus Eiderstedt, die, nach einer Vergewaltigung schwanger, von ihrer Familie verstoßen wird und in die Prostitution abrutscht. Von dem Klassiker der Tagebuchliteratur, in 14 Sprachen übersetzt und dreimal verfilmt, darunter 1929 in Hollywood, wurden insgesamt 1,2 Millionen Exemplare verkauft: Nach Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ war es das seinerzeit erfolgreichste deutschsprachige Buch.
In ihren Milieudarstellungen greift Böhme soziale Umbrüche und Verwerfungen ihrer Zeit auf, liefert aufschlussreiche Beiträge zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Vor allem anhand der Frauen zeigt Böhme den Wandel der Gesellschaft auf, aber auch seine Schattenseiten. Eindringlich beschreibt sie das entbehrungsreiche Dasein von Verkäuferinnen oder auch die unmenschlichen Verhältnisse, unter denen Telefonistinnen arbeiteten: Deren Leid schildert die Autorin in „Christine Immersen“ (1913), da werden die Beschäftigten zu „lebendigen Automaten am Apparat“ – „Warum gibt man uns nicht die Möglichkeit“, lässt Böhme fragen, „unsere Kräfte zu einem Wettlauf anzuspornen und auch Karriere zu machen? Warum sind auch die Intelligentesten unter uns zeitlebens an den subalternen Dienst gefesselt?“
Kritisch hinterfragt sie auch Grundsätzliches, das uns heute kaum ferner gerückt scheint: Warum verdienen berufstätige Frauen nochmal weniger, als Männer das tun? Und in ihrem Kaufhaus-Roman „W.A.G.M.U.S.“ setzte sie sich 1911 mit den Anfängen der Konsumgesellschaft und, wiederum, den Arbeitsbedingungen von Frauen in den Kaufhäusern auseinander.
Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 wurden Böhmes Bücher in Deutschland nicht mehr verlegt, 1939 starb die inzwischen vergessene Autorin in Hamburg-Othmarschen. Eine gewisse Renaissance wird damit erklärt, dass sich in den 1990er-Jahren verstärkt Menschen an die Verfilmungen des „Tagebuchs“ erinnern – und Hauptdarstellerin Louise Brooks.
Seit 2009 beschäftigt sich die Husumer Frauentheatergruppe 5plus1 mit der Aufarbeitung von Böhmes Erbe. Gemeinsam mit der Husumer Frauengeschichtswerkstatt lud frau etwa zu einem Stadtrundgang auf Böhmes Spuren. Denn Husum ist ein literarischer Ort – und kein kleiner Anteil daran gebührt der wieder zu entdeckenden Romanautorin. Vom Theodor-Storm-Haus trennen ihr Geburtshaus nur ein paar Gehminuten.
Ausstellung „Frei leben! Frauen der Boheme 1890–1920“: bis 30. 3. 2525, Schloss vor Husum
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