Russland nach der Offensive in Kursk: War was?

Putin spielt den ukrainischen Vorstoß in der Region Kursk herunter. Und auch die meisten Rus­s*in­nen zeigen sich gleichgültig.

Menschen vor einem Wohnhaus in Kursk, das von einer urkrainischen Drohne getroffen wurde Foto: Anatoliy Zhdanov/Kommersant/reuters

MOSKAU taz | Moskau tanzt, Moskau trinkt, Moskau leuchtet wie eh und je. Die Partys sind laut, die Cafés sind voll. Die Touristenorte quer durchs Land überfüllt. War was? Der ukrainische Vorstoß in der Region Kursk vor etwa einer Woche? Krieg auf eigenem Territorium? Tod von Verwandten? Sanktionen? Viele Russ*in­nen leben in diesem Sommer, als hätte es das alles nicht gegeben.

Oder aber: als gäbe es kein Morgen. Im Verständnis der meisten Menschen im Land gibt es ein solches Morgen auch nicht. Die Ungewissheiten, die Unplanbarkeit, ein Bild von einer wie auch immer gearteten Zukunft, all das existiert seit Februar 2022 nicht mehr, weil Russlands Präsident Wladimir Putin seinen Marschbefehl zum Überfall der Ukraine gab. Und doch: In Ungewissheiten sind viele Menschen im postsowjetischen Russland geradezu geübt. So geübt, dass sie einfach alles ertragen. Dass sie jegliches Ungemach hinnehmen, darüber hinwegsehen. „Prisposabliwatsja“, nennen sie es. Sich anpassen.

In Moskau sitzen sie an der Moskwa und verscheuchen die Fragen nach der Kriegsgefahr wie lästige Fliegen.

Derweil heulen in Kursk die Sirenen, Raketen schlagen nicht weit von der Stadt ein. Die Regierung hat vor wenigen Tagen in drei Grenzregionen eine „Antiterroroperation“ ausgerufen, die Geheimdienste haben nun noch mehr Macht dort.

Die Menschen haben sich an den Krieg angepasst, egal, wie sie letztlich im Einzelnen darüber denken. Sie erdulden es, politisch nichts bewegen zu können, und setzen auf ihre Selbstwirksamkeit im Privaten, wenigstens das. Bei allem, was darüber hinausgeht, schweigen sie. Sie wissen, was ihnen droht, wenn sie reden, kennen die Gesetzeslage. Sie akzeptieren sie, um zu überleben. In Sankt Petersburg genießen die Tou­ris­t*in­nen die Brise der Newa und tanzen in der Abendsonne. In Moskau sitzen sie an der Moskwa und verscheuchen die Fragen nach der Kriegsgefahr wie lästige Fliegen.

Dass nur 500 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt die ukrainische Armee russisches Territorium erobert hat, dass mehr als Hunderttausend Landsleute ihre Häuser verlassen mussten, um ihr Leben zu retten und nur mit dem, was sie anhatten, in der Regionalhauptstadt Kursk für ein paar Kissen und etwas Brot Schlange stehen, das interessiert außerhalb der beschossenen Region kaum jemand.

Der Alarmismus ist weg

Die vergangenen zweieinhalb Jahre seit Putin seine „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine ausgerufen hat – in russischer Abkürzung „SWO“ – haben den meisten Menschen im Land den Alarmismus genommen. Viele Rus­s*in­nen reagieren dabei genauso gleichgültig wie bereits am Anfang der Katastrophe. Sie tun das aus dem Gefühl heraus, nichts dagegen ausrichten zu können. „Von mir hängt nichts ab“, lernen sie bereits als Kind. Doch das Desaster, das jeder Krieg auslöst, ist nicht weg. In der Ukraine schon gar nicht. Und auch in Russland nicht.

Es ist, als hätte sich eine Betonplatte übers Land gelegt. Darunter gedeiht ein Leben – mit gutem Gehalt, viel Konsum, neuen Hypotheken. „Der Schock von 2022 ist überwunden, die Krise ist vorbei“, sagt die Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch, die an der Moskauer Staatsuniversität lehrt.

Nach der russischen Invasion in der Ukraine sah sie ihr Land spätestens im Herbst 2022 in großen wirtschaftlichen Turbulenzen. „Da habe ich mich vollkommen geirrt“, gibt sie heute in mehreren Interviews mit exilierten russischen Jour­na­lis­t*in­nen unumwunden zu. „Die russische Wirtschaft hat sich 2023 erholt. Das Einkommen wächst, die Kredite wachsen auch, die Investitionen haben nie abgenommen.“ Woran das liege? „Am fetten russischen Staat.“

Lange vor dem Krieg setzte Russland auf Sparsamkeit und den Abbau der Auslandsschulden. Das finanzielle Polster – den staatlichen Wohlfahrtsfonds und die niedrige Staatsverschuldung – nutzt es nun für seine Staatsausgaben: die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine.

Das Regime gibt immer mehr Geld aus, um die Menschen an die Waffen zu bringen. Waren früher vor allem in der Provinz Plakate zu sehen, die offen mit Geldprämien für den Dienst in der Armee oder als Freiwillige warben, finden sich solche mittlerweile auch in Moskau und Sankt Petersburg. „2.500.000 Rubel (umgerechnet fast 25.000 Euro) sofort und einmalig für deinen Dienst am Vaterland“ steht auf den Werbetafeln.

Erstarrung – die erste Reaktion auf Herausforderungen

Nun aber, da die Souveränität Russlands – mit dieser rechtfertigt das russische Regime seine „SWO“ in der Ukraine – angegriffen wird, tut Putin so, als sei irgendwo ein Fluss über seine Ufer getreten. Die nächste Überschwemmung, irgendwo weit weg. Eine solche Zurückhaltung ist nicht neu.

Die Erstarrung ist stets die erste Reaktion, die auf überraschende Herausforderungen folgt. Erst am Montag, eine Woche nach dem Einmarsch ukrainischer Truppen, zeigte das Staatsfernsehen Putins Treffen mit Gouverneuren der Grenzgebiete sowie den Verantwortlichen aus der Regierung und den Sicherheitsbehörden. Putin wirkte dabei genervt und unsicher, versuchte allerdings, Entschlossenheit zu demonstrieren: „Die aktuelle Aufgabe lautet jetzt: den Feind aus unserem Territorium zu verdrängen, ihn auszuschalten.“ Den Ukrainern drohte er mit einer „würdigen“ Antwort. Von etwaigen Friedensgesprächen nahm er Abstand.

In Kursk rufen die Menschen: „Wo ist der Staat? Warum zeigt sich uns der Staat nicht? Warum sagt er nicht die Wahrheit?“ Putin ist nicht damit gemeint. Sein Rückhalt in der Bevölkerung scheint nicht zu erschüttern zu sein, selbst wenn die eigenen Verwandten im Kampf gefallen sind, wenn das eigene Haus zerbombt wird. Er wird als Wohltäter gesehen.

Gebiete mit Waffenfabriken prosperieren

Der staatliche Rüstungssektor läuft auf Hochtouren und macht mit 67 Prozent mehr als ein Drittel des russischen Wirtschaftswachstums aus. „Das ist eine Überhitzung der Wirtschaft“, sagt Subarewitsch. In manchen Betrieben arbeiten die Menschen in drei Schichten. Früher abgehängte Regionen wie Tula, Kirow, Ischewsk, Kurgan, alles Gebiete mit Waffenfabriken, prosperieren. Die Jungen ziehen nicht mehr weg, weil sie in ihrer Heimatregion gut bezahlte Jobs finden.

Der Kampf um Arbeitskräfte ist voll entbrannt. Zudem hat die Migration aus Zentralasien abgenommen. Um Personal zu halten, zahlen Russlands Betriebe gute Gehälter. Nach den Staatsunternehmen ziehen auch die zivilen Branchen an, locken ebenfalls mit gutem Geld, sonst gingen ihnen die Ar­bei­tskräf­te aus. Lediglich die Holzverarbeitungsbranche leidet, weil sie das teure Holz nicht mehr nach Europa verkaufen kann. Indien und China wollen billiges Sperrholz.

Die Umstellung vieler Branchen auf Asien funktioniert aber durchaus, nur die Logistik hinkt hinterher. So soll die Transsibirische Eisenbahn ausgebaut werden, dafür wurde nun auch Waldrodung erlaubt. Russland exportiert Mehl und Weizen, verkauft Schweinefleisch nach China, Huhn in die arabischen Länder. Auch die Öl- und Gasgeschäfte laufen, wenn auch mit Preisnachlass. „Die wirtschaftliche Entwicklung verlangsamt sich nun, kommt an eine gewisse Decke“, sagt Subarewitsch.

2023, so heißt es bei der staatlichen Statistikbehörde Rosstat, seien die Einkommen dennoch um 14 Prozent gestiegen, im ersten Quartal 2024 sogar um 19 Prozent. Das Geld kommt in Umlauf, auch der Staat hat etwas davon: die Steuereinnahmen. Die Menschen investieren in Essen, Urlaub, Autos, Wohnungen. Das sichtbarste Zeichen der westlichen Sanktionen in Russland sind chinesische Autos. Im Vergleich zu 2022 stieg der Verkauf all der ­Geely-, Chery-, Haval-, Zeekr-, Li-Modelle im Jahr 2023 um 540 Prozent.

Doch auch westliche Luxusware rollt über die Straßen russischer Großstädte. Über Drittländer gelangen Maybachs, Audis und BMWs wie auch Turnschuhe, Kaffeekapseln, Ikea-Möbel oder H&M-Kleider ins Land. Es ist nur eine Frage der Zeit – und des Geldes. Ein 5er-BMW kostet in Russland schon einmal das Doppelte desselben Modells in Deutschland. Manch ein russischer Milliardär lässt sich gleich zwei Maybachs liefern: einen als Ersatzteillager. „Die Reichen müssen für ihren Lebensstil mehr zahlen, die Armen kommen überhaupt erst ans Geld und kaufen Wohnungen für ihre Kinder. Die, die leiden, sind die KMU, die Bankrotte häufen sich“, sagt Natalja Subarewitsch.

Fragen nach Moral und Krieg sind selten

Die bessere finanzielle Lage vieler Menschen führt selten dazu, dass sie sich Fragen nach Moral stellen und den Krieg in der Ukraine hinterfragen. Es ist eher das Gegenteil: Sie fordern oft mehr Schlagkraft gegenüber der Ukraine. Die Schuld am eigenen Leid wird stets im Westen gesehen. Die Ukraine sei auch in der Region Kursk lediglich ausführendes Organ, das den „Befehlen ihrer Herren“ folge, wie Putin es nennt.

Im Staatsfernsehen wird vom ukrainischen Vorstoß nicht als solchem berichtet, sondern von einer „Situation“, die sich ergeben habe. Evakuierungen heißen „Standortwechsel in sicherere Orte“. Die Evakuierten verstehen meist nicht, wie ihnen geschieht. „Aber warum denn wir? Mein Mann kämpft doch bei der SWO“, sagen da manche oder: „Wir wollten doch die Ukrainer befreien, warum besetzen die Ukrainer nun uns?“ Der Reporter im staatsnahen Perwyj Kanal betont die Hilfe für die Geflüchteten. „An solchen Tagen wird sich gegenseitig gern geholfen“, sagt er. Als seien „solche Tage“ vollkommen alltäglich.

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