Overtourism in Süditalien: Das letzte gallische Dorf

Früher hörte unsere Autorin in ihrer Heimat nur den lokalen Dialekt, jetzt das Schnattern auf Deutsch. Wie viel Tourismus verträgt eine Region?

Ganz geil: Kalte Süßwasserquellen sprudeln aus den Felsen und bieten bei 40 Grad Abkühlung Foto: Lorenzo di Cola/imago

APULIEN taz „Lu Sule, Lu Mare, Lu Ientu“ – Sonne, Wasser und Wind, so lautet das Versprechen, das der Salento seinen Be­su­che­r*in­nen gibt. Salento? Nur wenige Unwissende runzeln noch die Stirn, die meisten verstehen.

Gemeint ist die Südspitze Apuliens, der italienische Stiefelabsatz, eine Küstenregion erbaut aus weißem Stein, umgeben vom kristallklaren Wasser des Adriatischen und Ionischen Meeres. Am Kap prallen die beiden Wassermassen unterschiedlicher Blautöne aufeinander. Bei dieser Umarmung der Meere schäumt eine deutlich erkennbare Linie auf der Oberfläche.

Wer an den zerklüfteten Felsvorsprüngen badet, an scharfen Steinkanten und Seeigeln vorbei, taucht ab in ein tiefes, frisches Blau. Kalte Süßwasserquellen sprudeln aus den Felsen und bieten bei Sommertemperaturen von bis zu 40 Grad eine willkommene Abkühlung.

Wer Karibikfeeling sucht, streift durch Pinienwälder, bis ein feiner Sandstrand den staubigen Boden ablöst. Mehrere Meter kann man in das warme Wasser hinein waten und sich von den Wellen sanft hin und her wiegen lassen.

Früher war all das ein Geheimtipp, jetzt wird es Mainstream. Für mich schwer vorstellbar. Es ist der Ort, an dem meine Familie verwurzelt ist und ich jeden Sommer meine Schulferien verbrachte. Sobald ich die Autotüren schloss, um die etwa zwölfstündige Fahrt von München bis ins tiefste Italien anzutreten, verwandelte sich das Vehikel in eine Zeitmaschine. In Apulien ticken die Uhren deutlich langsamer.

Nichts vor der Heirat

Ausgewanderte in der zweiten Generation waren dort lange Zeit das Exotischste, was vielen unter die Augen gekommen ist. Andersherum galt das genauso. Selbst als in Bayern sozialisiertes Kind ist diese alte Welt, deren Wertesystem von Tradition und Religion bestimmt wird, gewöhnungsbedürftig.

Junge Leute schleichen sich heimlich in der Dunkelheit zum Kondomautomaten.

Hier zählt, was die Nachbarschaft sagt und denkt. Die Tage haben einen festen Ablauf, jedes Dorf ei­ne*n Schutz­hei­li­ge*n mit dazugehörigem Fest. Frauen verlassen das Elternhaus meist nicht vor der Heirat, außer vielleicht zum Studieren.

Junge Leute schleichen sich heimlich in der Dunkelheit zum Kondomautomaten. Erledigt man Besorgungen dieser Art in der örtlichen Apotheke oder im Supermarkt, wissen morgen alle Bescheid.

Die Menschen sprechen eine Sprache, die nur wenig mit Standarditalienisch zu tun hat. Für ungeschulte Ohren dürfte das nach einer wilden Aneinanderreihung von Us klingen. Ich dachte immer: Das ist nichts für Leute von außerhalb. Man muss es schon kennen, um es zu lieben.

Ich dachte, Apulien wäre das letzte gallische Dorf in einer Welt, die von Massentourismus, Pauschalreisen und Frühbucherrabatten angetrieben wird. Ich lag falsch.

Bei meinem diesjährigen Besuch verzerren mehrsprachige Bäckereitafeln und Menükarten den gewohnten Anblick. Das Servicepersonal kleiner Restaurants scherzt in passablem Englisch, während es früher schon einer Verrenkung gleichkam, nicht im Dialekt zu sprechen.

Wohin ich auch hingehe, das ständige Schnattern auf Deutsch, Englisch und Französisch irritiert meine Ohren. Ich selbst bin auch eine Touristin, dennoch empfinde ich den anderen gegenüber ein Störgefühl. Mir fallen die Videos aus Barcelona ein, die vor Kurzem viral gingen. Ansässige spritzten Tou­ris­t*in­nen mit Wasserpistolen nass und jagten sie davon. Eine klare Ansage an den nie abreißenden Strom von Be­su­cher*in­nen, die ganzjährig die Stadt überschwemmen.

Was halten die Einheimischen hier davon, dass die Welt zu ihnen kommt? Auf den ersten Blick scheint ihnen das zu gefallen. Tourismus spült Geld in die Kassen, zwingt den Staat, hässliche Schandflecken auszubessern und längst überfällige Bauarbeiten anzugehen.

Wider die frugalistische Infrastruktur

Ich bemerke aber auch die bösen Blicke. Giftige Kommentare darüber, wie die vielen Menschen die frugalistische Infrastruktur überlasten und Preise in die Höhe treiben.

Scheinbar sind sich die Menschen hier noch nicht einig, was mit dem neuen Boom anzufangen ist. Während die einen die Gunst der Stunde nutzen, betrachten andere es wohl als gefährliches Spiel mit dem Feuer. Vor ein paar Wochen mussten Tausende Ur­lau­be­r*in­nen nach einem massiven Waldbrand ihre Ferienanlage verlassen. Als Ursache gilt Brandstiftung. War es Absicht?

Der Brandherd lag ganz in der Nähe der touristischen Unterkunft. Ausschlaggebend war letztlich der Wind, der das Feuer in Richtung des Ortes trieb. Niemand äußert den Verdacht laut. Aber wer die Menschen hier ein bisschen beobachtet, merkt schnell: Mit Winden kennen sie sich aus. Sie stecken nur die Nase aus der Tür, um zu erkennen, welche der beiden typischen Brisen über den Stiefelabsatz fegt, der frische Nordwestwind Tramontanaoder der heiße Saharawind Scirocco.

Heute reise ich nicht mehr mit dem Auto. Mittlerweile gibt es in der Region zwei Flughäfen und in den Sommermonaten mehrere Flüge pro Woche, sowohl von Standardanbietern als auch von Billig-Airlines. Auf dem Weg zum Gate analysiere ich meine Beobachtungen der letzten Tage und frage mich:

Wie viel Mainstream verträgt die Magie eines Ortes? Wie viel Tourismus ist gut, bevor das Milieu kippt? Als ich aufschaue, sitzt vor mir die deutsche Autorin Sophie Passmann. Sie schenkt dem Kind, das neben ihr sitzt, eines ihrer Armbänder vom letzten Taylor-Swift-Konzert.

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