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Grüne Oase der Nachhaltigkeit: Im Camp Jaci Rocha betreibt die Landlosenbewegung eine Schule für Agrarökologie Foto: Philipp Lemmerich

Brasiliens Landlosenbewegung MSTDer Anbau der Utopie

Seit 40 Jahren kämpft Brasiliens Landlosenbewegung für eine faire Verteilung von Land – trotz mächtiger Feinde. Zu Besuch bei zwei Camps.

J úlia Cécilia ist eine zierliche Frau, die seit einer Krebserkrankung im Rollstuhl sitzt. Doch wenn sie an den entscheidenden Moment im Jahr 2018 zurückdenkt, als für sie ein neues Leben begann, richtet sie sich stolz auf. „Als wir hier ankamen, waren die Polizei und der Präfekt bereits vor Ort. Sie stoppten unsere Busse, aber wir gingen zu Fuß weiter“, erzählt sie. „Ich war die erste Person, die die Flagge der Bewegung direkt vor den Polizisten hisste.“

Wir befinden uns im Camp Marielle Vive, einer Siedlung der brasilianischen Landlosenbewegung MST („Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra“) im hügeligen Hinterland von São Paulo. Das Camp trägt den Namen der 2018 ermordeten Politikerin Marielle Franco.

Deren Tod schreiben viele dem rechtsextremen Lager um Ex-Präsident Jair Bolsonaro zu – denn als linke Stadträtin von Rio de Janeiro kämpfte sie gegen Polizeigewalt und Diskriminierung und wurde dadurch zur Zielscheibe für rechtsextreme Milizen und ihre politischen Verbündeten. Hier im Camp ist ihr Name ein Symbol des politischen Widerstands gegen die immense wirtschaftliche Ungleichheit im Land.

Die großen roten Fahnen sind unübersehbar. Darauf abgebildet: Ein Mann, der eine Machete schwingt. „Die Flagge leitet uns“, sagt Júlia. Seit der Besetzung vor sechs Jahren leben rund 300 Familien auf einer 30 Hektar großen Fläche, auf der ursprünglich Luxuswohnungen entstehen sollten. Doch der Eigentümer ließ das Land jahrelang brachliegen. MST-Aktivisten vermuteten Bodenspekulation und organisierten im April 2018 die Besetzung.

Extreme Ungleichheit

Die Landlosenbewegung MST wurde vor 40 Jahren im Bundesstaat Paraná gegründet und zählt heute schätzungsweise 1,5 Millionen Mitglieder, die auf etwa 2.000 Siedlungen im ganzen Land verteilt leben. Ihre wichtigste Forderung: eine umfassende Agrarreform. Wie in vielen Ländern Lateinamerikas ist auch in Brasilien das Landeigentum extrem ungleich verteilt. 10 Prozent der Landeigentümer besitzen etwa 75 Prozent der Fläche, die meisten von ihnen Großgrundbesitzer und internationale Agrarunternehmen.

Ihnen gegenüber stehen Millionen von Kleinbauern und Landarbeitern, die keinen Zugang zu Anbauflächen haben. Viele von ihnen haben Armut und Verelendung erlebt und sind mangels Alternativen in die großen Ballungsgebiete gezogen.

Auch Júlia Cécilia hat schwere Zeiten hinter sich. Sie sitzt heute im Rollstuhl, weil sie mit Pestiziden vergiftet wurde, erzählt sie. „Fast meine ganze Familie ist daran gestorben.“ Ihr Vater sei Kleinbauer gewesen, und ihre Familie habe in der Nähe von Sojaplantagen gelebt, auf denen regelmäßig Pflanzengifte versprüht wurden. Es habe Jahre gedauert, bis sie die Todesfälle mit dem Einsatz von Pestiziden in ihrer Umgebung in Verbindung gebracht habe, sagt Júlia heute. Auch ihre eigene Krebserkrankung führt sie darauf zurück.

Brasilien ist der weltweit größte Importeur von Pestiziden. Es sind auch Stoffe zugelassen, produziert von deutschen Unternehmen wie Bayer, die wegen ihrer Gefahr für die menschliche Gesundheit in der EU längst verboten sind. Deshalb wirkt Júlias Geschichte plausibel, auch wenn sie sich nicht nachprüfen lässt. „Deshalb kämpfe ich nicht nur für Agrarreform, sondern auch gegen Pestizide und für eine gesunde Ernährung.“

Biologische Selbstversorgung

Das MST-Camp bietet Júlia eine gelebte Alternative: biologische Standards, Selbstversorgung, Basisdemokratie. Ein kollektiver Gegenentwurf zu Privateigentum, dass sich in den Händen einiger weniger konzentriert. Wie Júlia haben auch viele andere Bewohner Armut und Verelendung erlebt. Das Camp ist für sie ein Neuanfang, eine zweite Chance.

Es gibt gute Gründe für eine Landreform in Brasilien, und dennoch löst der Begriff bei vielen Alarmglocken aus. Es klingt nach Umsturz und Revolution, nach einem massiven Eingriff des Staates in die Eigentumsrechte. Doch in Wirklichkeit beruft sich das MST mit seinen Besetzungen auf die brasilianische Verfassung von 1988.

Für Júlia Cecilia hat das Leben neu begonnen, als sie nach Marielle Vive kam. Seit einer Krebserkrankung sitzt sie im Rollstuhl Foto: Philipp Lemmerich

In Artikel 184 heißt es: Ländereien, die nicht landwirtschaftlich genutzt werden und keine soziale Funktion erfüllen, dürfen enteignet werden – wobei die soziale Funktion bedeutet, dass das Land produktiv genutzt wird, Umwelt- und Arbeitnehmergesetze einhält und zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gemeinschaft beiträgt.

Und dieser Verfassungsgrundsatz wird auch angewandt. Seit 30 Jahren findet in Brasilien eine Landreform statt. Zwar keine revolutionär-umstürzlerische, sondern eine stetige, langsame. Es gibt sogar eine eigene nationale Behörde für die Umsetzung der Landreform, die Incra.

Ein qäulend langsamer Prozess

Doch Brasilien ist ein riesiges Land, und es ist unmöglich, alle unproduktiven Ländereien zu überprüfen. Deshalb sei die Incra auf die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen wie dem MST angewiesen, erklärt Maria Rosilene, Direktorin für ländliche Entwicklung bei der Incra. „Die Kleinbauern, die Landarbeiter brauchen Anbauflächen. Sie können nicht abwarten, bis der Staat gegen unrechtmäßige Besitzverhältnisse einschreitet.“

Was vielversprechend klingt, ist in Wahrheit oft ein quälend langer Prozess. Bis die Prüfung durch die Incra abgeschlossen ist und besetzte Flächen legalisiert werden, vergehen meist einige Jahre. Erst dann wird der ursprüngliche Besitzer entschädigt, erst dann haben die Bewohner der Camps die Sicherheit, dass sie auch dort wohnen und arbeiten dürfen, wo sie sich eingerichtet haben.

Bei Marielle Vive ist dies noch nicht geschehen. „Hier gab es kein Trinkwasser“, erzählt Cíntia, die sich im Leitungskreis engagiert. „Wir haben die Stadtverwaltung immer wieder aufgefordert, uns Zugang zu Wasser zu ermöglichen.“ Bei einer Demonstration, die die Campbewohner organisiert hatten, fuhr ein Auto in die Menge, ein Mensch starb. „Erst danach hat die Verwaltung eingelenkt und schickt uns seitdem vier Wassertankwagen pro Woche.“

Solange das Camp nicht legalisiert ist, gehört das Land den Bewohnern nicht. Sie dürfen keine Genossenschaften gründen, um ihre Produkte zu vermarkten, und das bedroht ihre Existenz. Während der Amtszeit von Ex-Präsident Jair Bolsonaro wurde das Budget der Incra heruntergefahren und die Legalisierung von MST-Camps gestoppt. Seit dem Amtsantritt des linken Präsidenten Lula da Silva Anfang 2023 hat sich die Lage etwas verbessert. Die Bewohner von Marielle Vive sind mittlerweile zumindest bei der Incra registriert.

Ein Leben ohne Gift

Am Ende eines staubigen Weges, an dessen Rand sich Wellblechhütten säumen, liegt der Gemüsegarten des Camps. Die Mittagssonne brennt unerbittlich, nur im Schatten der Bäume ist es auszuhalten. Edilei, ein freundlicher Mann Ende 40, ist einer der Gärtner hier. „Wir hatten schon über 2.000 Maniokpflanzen. Aber wir bauen auch Heilmittel und fast jede Art von Gemüse an.“

Auch Edilei ist auf die konventionelle Landwirtschaft nicht besonders gut zu sprechen. „Ihnen geht es nur um Profit, Profit und wieder Profit.“ Welche Auswirkungen der Einsatz von „Gift“, wie alle hier sagen, also von Herbiziden und Pestiziden, auf die Gesundheit der Menschen habe, sei den großen Agrarunternehmen herzlich egal, meint er.

Brasilien ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Eldorado für nationale und internationale Agrarkonzerne geworden, vor allem beim Anbau von Cash Crops wie Soja oder Mais, angebaut in riesigen Monokulturen, winken hohe Gewinne. Heute ist Brasilien bei vielen Agrarprodukten der größte Exporteur weltweit. Die kleinteilige Subsistenzwirtschaft wie hier im MST-Camp ist dazu ein starker Kontrast. „Wir wollen Produkte ohne Gift liefern“, sagt Edilei. Und: Das Wissen über ökologische Anbaumethoden soll sowohl an Campbewohner als auch die angrenzenden Communitys weitergegeben werden.

Das sind ambitionierte Pläne. Bislang können sich die Bewohner von Marielle Vive noch nicht vollständig selbst versorgen und haben oft Jobs in der nahegelegenen Stadt Campinas. In Zukunft wolle man aber sogar umliegende Gemeinden mit gesunden Lebensmitteln beliefern, sagt Edilei selbstbewusst.

Säen, ernten, Capoeira tanzen

Einer, der Edilei regelmäßig beim Gärtnern unterstützt, ist Gilmar. Er lebt einen Steinwurf vom Gemüsegarten entfernt mit seiner Familie in einer Wellblechhütte. Drinnen ist es zur Mittagszeit noch heißer als draußen, ein klappriger Ventilator sorgt für etwas Wind. Gilmar, ein warmherziger Mann um die 50, lässt sich davon nicht beeindrucken, holt einen Berimbau, ein traditionelles Saiteninstrument, aus einer Ecke und beginnt ein Lied über die Vorzüge der Landlosenbewegung zu singen: „Land zum Arbeiten, Früchte zum Ernten, das Volk arbeitet für den MST.“

In der Stadt habe er ständig mit hohen Mietkosten zu kämpfen gehabt, erzählt er später. „Überleben war eine tägliche Herausforderung. Ich habe manchmal auf Dinge verzichtet, die ich dringend brauchte, nur um die Miete bezahlen zu können.“ Als er vom Camp Marielle Vive hörte, sei er einfach mal vorbeigekommen. „Und dann haben sie mich tatsächlich aufgenommen“, erinnert er sich.

Ein Wendepunkt in Gilmars Leben, so sieht er das heute. Miete muss er keine mehr bezahlen, dafür hilft er bei der Selbstversorgung, hat ein eigenes Häuschen und eine kleine Solaranlage auf dem Dach, die seine Familie rund um die Uhr mit Strom versorgt. Besonders stolz ist Gilmar auf seine Arbeit als Capoeira-Lehrer mit den Jugendlichen im Camp. „Capoeira bietet Kultur, Kunst, Freizeit und körperliche Erziehung in einem. Es ist eine umfassende Ausbildung für die Jugendlichen.“

Marielle Vive ist für Gilmar mehr als nur ein Wohnort. Es ist eine Gemeinschaft, die ihm Sicherheit und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung bietet. „Es ist ein großes Gefühl von Freiheit“, sagt er.

Den Rechten ein Dorn im Auge

Mit dieser Mischung aus nachhaltiger Landwirtschaft und gemeinschaftlichem Leben hat sich die Landlosenbewegung MST viele Feinde gemacht. Besonders für die extreme Rechte und die Agrarindustrie ist der MST ein rotes Tuch. Immer wieder werden Aktivisten gewaltsam angegriffen.

De Olho nos Ruralistas“, eine unabhängige Nichtregierungsorganisation, hat in einer Studie die Verbindungen zwischen bewaffneten Gruppen, großen Agrarunternehmern und der politischen Rechten analysiert. Besonders im Fokus: Die „Frente Parlamentar da Agropecuária“ (FPA), auch bekannt als „Agrar-Fraktion“ – ein parteiübergreifender rechter Zusammenschluss, der mehr als die Hälfte der Abgeordneten im Bundesparlament hinter sich vereint.

Führende Mitglieder der FPA erhielten direkte finanzielle Unterstützung durch Agrarunternehmen, so die NGO. Im Gegenzug profitierten die Unternehmen von gelockerten Umweltauflagen oder vereinfachtem Zugang zu landwirtschaftlichen Krediten.

Was die Agrar-Fraktion vereint, ist der Hass auf die Landlosenbewegung. Im vergangenen Jahr wurde von rechten Abgeordneten ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss initiiert, um den kriminellen Charakter des MST zu beweisen. Einer, der als Experte geladen war, ist Xico Graziano. Publizist und Ideengeber im konservativen Lager.

Edilei ist Gärtner in Marielle Vive. Den großen Agrarunternehmen wirft er vor, nur an Profit interessiert zu sein Foto: Philipp Lemmerich

No Hunger, no Klimawandel

Er argumentiert, der MST habe zum Zeitpunkt seiner Gründung vor 40 Jahren tatsächlich viele Missstände angesprochen, doch sei das lange her. Angesichts der Entwicklungen in der Agrarwirtschaft habe der MST längst seinen Sinn verloren. „Inzwischen hat sich der Großgrundbesitz gewandelt. Riesige Flächen, die früher brachlagen, werden heute landwirtschaftlich genutzt.“ High-Tech-Landwirtschaft brauche keine Landreform.

Bernardo Mançano, Professor für Geografie an der staatlichen Universität São Paulo, sieht das anders. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem MST und hält ihren Ansatz, Subsistenzwirtschaft zu betreiben, für alles andere als rückständig. Denn während große Agrarkonzerne in erster Linie für den Export produzierten, landeten die Erträge von Kleinbauern auf dem Teller der Brasilianer. „Bäuerliche Landwirtschaft, das Sich-selbst-versorgen, löst das Hungerproblem und das Klimaproblem“, ist sich Mançano sicher.

In jedem Fall ist die Fläche, um die es hier geht, enorm: Im Zuge der Landreform wurden in Brasilien 80 Millionen Hektar Land umverteilt, das entspricht knapp 10 Prozent der Gesamtfläche des Landes. Der konservative Graziano kritisiert, dass die Regierung viel Geld ausgebe, ohne ausreichend zu prüfen, was in den MST-Siedlungen tatsächlich passiere, ob überhaupt Ackerbau betrieben würde und die Ländereien nicht längst vererbt worden seien.

„Brasilien hat in den letzten 30 Jahren fast 100 Milliarden Dollar für das Agrarreformprojekt ausgegeben. Doch mit welchem Ergebnis?“ Die Regierung solle lieber die Agrarwirtschaft stärker unterstützen, die fast ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet.

Land ist keine Ware

Maria Rosilene von der Incra kann diese Argumente nicht nachvollziehen. „Land ist keine Ware wie jede andere. Und Produktivität ist nicht das wichtigste Kriterium“, sagt sie. Die Landreform sei in der brasilianischen Verfassung verankert, und jeder habe das Recht, sich auf der Grundlage der Agrarreform anzusiedeln.

Verfassungsfragen sind das eine, die Realität das andere. Und die ist in Brasilien immer stärker vom Klimawandel geprägt. Dürren und Überschwemmungen häufen sich, zuletzt im Süden des Landes mit vielen Todesopfern. Die riesigen Monokulturen, auf denen Cash Crops wie Mais oder Soja industriell angebaut werden, sind besonders anfällig. Sie entziehen den Böden viel Wasser und sind nur mit viel Dünger und Pestiziden ertragreich.

Der MST will gegensteuern. Landreform gleich Umweltschutz, so die Devise der Aktivisten. Was das konkret bedeutet, lässt sich im Bundesstaat Bahía besichtigen, im Nordosten Brasiliens. Zwischen vertrocknetem Weideland und endlos wirkenden Eukalyptusmonokulturen ist die MST-Siedlung Jaci Rocha schon von Weitem erkennbar – als grüne Oase.

Die Landlosenbewegung experimentiert hier mit nachhaltigen Anbaumethoden und Agroforst, also der gleichzeitigen Kultivierung von Nutzpflanzen und Bäumen, die Schatten spenden und die Bodengesundheit stärken. Zwischen einheimischen Bäumen wachsen Kaffee, Pfeffer und Maniok.

Aufnahmestopp im Camp

30.000 Hektar umfasst die Siedlung. Das MST hat sie 2009 besetzt, und schon seit Jahren ist sie von der Incra legalisiert. Verglichen mit dem Camp Marielle Vive sieht die Siedlung hier völlig anders aus: Die gut 200 Familien, die hier leben, wohnen in befestigten Wohnhäusern, haben eigene Flächen, die sie bewirtschaften, können sich mit den Erträgen selbst versorgen. Platz für neue Familien ist rar, wie in den meisten MST-Camps gibt es auch hier schon lange einen Aufnahmestopp.

Ein paar Hundert Meter einen Hügel hinab steht der Neubau der Schule für Agrarökologie „Egidio Brunetto“, die die Bewegung hier betreibt. Camilo, ein Mittdreißiger, der eigentlich aus Argentinien stammt, hat hier eine Ausbildung als Techniker für Agrarökologie und Agroforst durchlaufen. „Die Bewegung hat in mich investiert, die Ausbildung war völlig kostenfrei. Ich bin sehr dankbar dafür“, erzählt er.

Camilo wuchs in Bariloche in Patagonien auf, entdeckte schon früh seine Liebe zur Natur. Mit Mitte 20 kam er nach Rio de Janeiro, und erst während der Pandemie zog er mit seiner damaligen Ehefrau nach Bahía aufs Land. Als die Beziehung zerbrach, lud ihn einer seiner Freunde in die MST-Siedlung ein. „Camilo, auch du bist ein Landloser, du weißt es nur nicht“, habe sein Freund ihm damals lachend zugerufen, so erinnert sich Camilo heute.

Camilo beschäftigt sich intensiv mit Agrarökologie, mit nachhaltigen Anbaumethoden, aber auch mit der Landfrage und Privateigentum generell. „Es geht nicht nur um Brasilien oder Argentinien. Es ist ein Problem in ganz Lateinamerika“, erklärt er. Die Ungleichheit im Land sei eine strukturelle Fortsetzung des Kolonialismus, meint er.

Die indigenden Kulturen bewahren

„Und dabei geht es nicht nur um die Landwirtschaft, sondern darum, wie lokale und indigene Kulturen überleben können.“ Kulturen, die viel über das Zusammenleben mit der Natur wüssten und die wir für die Lösung unserer ökologischen Krisen dringend bräuchten. „Land sollte kein Privateigentum sein, sondern ein Gemeingut, um das wir uns zusammen kümmern können.“

Die MST-Siedlungen sind für Camilo, ähnlich wie die indigenen Schutzgebiete Brasiliens, ein Gegenentwurf zu Privateigentum und damit auch ein Weg, die langen Schatten des Kolonialismus zu überwinden.

Mit schnellen Schritten überquert Camilo das Gelände der Schule. In wenigen Tagen wird er hier seinen ersten Kurs als Dozent halten. „Ich bin schon ein bisschen nervös“, erzählt er lachend.

In einem der Klassenräume haben sich 30 Studenten versammelt. Erst tragen einige ein kleines Theaterstück vor, dann beginnen alle gemeinsam zu singen. Die Stimmung ist ausgelassen. „Jeder Morgen beginnt so“, erklärt Camilo. Es ist ein gemeinsames Ritual, die mística. „Einer der Ursprünge des MST ist die Befreiungstheologie. Das sieht man hier. So beginnt unser Tag. Wir erinnern uns daran, wo wir herkommen und warum wir hier sind. Es ist ein kollektiver Moment, und für mich hat es etwas Magisches“, meint Camilo.

Der Weg der Bäume

Ein paar Hundert Meter weiter lebt Valdedi, eine freundliche Frau in ihren Fünfzigern. Sie ist Lehrerin an der Schule für Agrarökologie und bewirtschaftet gemeinsam mit ihrem Mann eine Parzelle Land. Seit 2017 lebt sie in der MST-Siedlung und kann sich kein anderes Leben mehr vorstellen. „Hier habe ich Platz. Alles ist offen und frei. Die Tatsache, dass ich Menschen in der Nähe habe, denen ich vertraue, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit“, sagt sie.

Stolz zeigt Valdedi die Obstbäume und einheimischen Gemüsesorten, die sie hier anbaut – alles ohne Pestizide. Es ist ihr Beitrag zum „Nationalen Plan“, den das MST ausgerufen hat. Bis 2030 sollen 100 Millionen Bäume gepflanzt werden, 25 Millionen sind es schon heute. Der MST hat sich damit recht geräuschlos an die Spitze der ökologischen Bewegung in Brasilien gesetzt.

Valdedi ist überzeugt davon, dass das der richtige Weg ist. „Ich glaube sehr daran, dass wir Agrarökosysteme schaffen müssen. Produzieren ja, aber innerhalb von Ökosystemen. Wir müssen der Natur ihren Platz einräumen. Und der Agroforst ist unser Weg, um diesen Wandel zu erreichen.“

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1 Kommentar

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  • Ab einem Punkte ist Ungleichheit sehr, sehr ungesund. Für den Mensch, die Umwelt und auch die Wirtschaft.



    Taiwans Aufstieg von der armen Fischerinsel begann u.a. mit einer Bodenreform.