Zwölf Jahre Gulag und Verbannung nach Sibirien

„Nach der Befreiung“ durch die Rote Armee 1944 und 1945 wurde die Philosophin Barbara Skarga in russisch-sowjetische Arbeitslager gebracht und gefoltert. Ihr Bericht liegt nun auf Deutsch vor und zeigt Parallelen zur heutigen Zeit auf

Von Gabriele Lesser

Barbara zog ein luftiges Sommerkleid an. Die Sonne brannte schon früh vom Himmel. Es würde ein heißer Tag werden. Am Abend wollte die polnische Philosophiestudentin auf eine Party gehen und sorglos feiern. Mitte 1944 schien der Zweite Weltkrieg schon fast zu Ende zu sein. Sie warf sich noch eine Handtasche über die Schultern und machte sich auf den Weg zu ihrem Bekannten, mit dem gemeinsam sie im polnischen Untergrund gegen die deutschen Besatzer kämpfte. Doch dort warteten schon die „Befreier“ auf sie.

Stunden später fand sie sich in einem Gefängnis des russisch-sowjetischen Geheimdienstes NKWD wieder. Der Vorwurf: Als polnische Faschistin habe sie mit den Deutschen kollaboriert. Dass ihr ein Jahr Gefängnis, zehn Jahre Haft im sowjetischen Gulag und ein weiteres Jahr Zwangsarbeit in einer sibirischen Kolchose bevorstehen würden, ahnte sie damals noch nicht. Erst 1956 durfte sie zurück nach Hause, doch nicht ins litauische Vilnius – das lag inzwischen in der Sowjetunion –, sondern nach Warschau in Polen, das es als Satellitenstaat Moskaus hinter dem Eisernen Vorhang auch nicht viel besser getroffen hatte.

Erst drei Jahrzehnte später wagt es die inzwischen renommierte Philosophieprofessorin Barbara Skarga, ihre Erinnerungen an die russisch-sowjetischen Gefängnisse, die Straflager für politische Gefangene und die wirtschaftlich völlig ineffiziente Kolchose aufzuschreiben. Aber auch nach dem Tod Stalins herrscht noch lange Jahre die „Zeit der großen Angst“. In Polen gibt es auch 1985, 40 Jahre nach Kriegsende, noch keine Presse- und Meinungsfreiheit. Wer gegen die Zensur verstößt, landet im Gefängnis.

Über den russischen Sowjet-Verbrechen gegen Hunderttausende Polen, Litauer, Letten, Esten und Ukrainer lastet ein erzwungenes Schweigen. Daher verändert Skarga 1985 viele Ortsnamen und Details, die sie verraten und erneut ins Gefängnis bringen könnten. Sie publiziert ihre Erinnerungen vorsichtshalber unter Pseudonym und in einem polnischen Exilverlag in Paris. Das elende Leben in russisch-sowjetischen Gefangenschaft überschreibt sie bitter-sarkastisch mit dem offiziellen Propagandaslogan des Regimes: „Nach der Befreiung“.

Über den konspirativen „zweiten Umlauf“, den es neben dem offiziellen Buchmarkt in der kommunistischen Volksrepublik Polen gab, kommt ihr Buch nach Polen zurück und wird in intellektuellen Kreisen diskutiert. Nach dem „Archipel Gulag“ des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn von 1973 und dem bereits zuvor erschienen Zeitzeugnis „Welt ohne Erbarmen“ (1953) des exilpolnischen Journalisten Gustaw Herling-Grudziński ist das Buch „Nach der Befreiung“ das erste große Werk einer Frau, die zehn Jahre im Gulag und in der sibirischen Verbannung überlebt hat.

Nach der politischen Wende in Polen 1989 und den ersten noch halbfreien Wahlen im damaligen Ostblock im Juni 1990 erscheint ihr Buch in mehreren Auflagen unter ihrem wirklichen Namen Skarga und ohne die einst notwendige Ortsnamen-Camouflage. Nur die Kolchose heißt nach wie vor „Budjonowka“ – vielleicht als Schutz gegenüber den Menschen, die dort noch immer leben müssen.

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 sind Skargas Erinnerungen wieder hochaktuell. Sie zeigen auf, was den Ukrainerinnen und Ukrainern „nach der Befreiung vom Faschismus“ drohen würde.

Der Körper nimmt den für Sowjetgefängnisse typischen Geruch von Exkrementen, stinkendem Schweiß und sich zersetzendem Menstruationsblut von über 20 Frauen in einer Zelle an

Nun kann man ihr Buch auch auf Deutsch lesen. Der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe hat es auf Anregung der polnisch-belgischen Philosophin Alicja Gescinska ins Programm genommen. „Vieles von dem, was Skarga beschrieben hatte, ist auf schmerzliche Weise wiedererkennbar geworden“, schreibt Gescinska im Vorwort. „Die russische Rhetorik über die Notwendigkeit, das Nachbarland vom Faschismus zu befreien.“ Außerdem: Hunger als Waffe, Deportationen, die Evakuierungen genannt werden. Scheinreferenden und -wahlen. „Skarga schrieb, wie es früher war, und die Parallelen zur heutigen Zeit sind nicht zu verkennen“, so Gescinska.

Vilnius im Jahr 1944: Das Schlimmste für die 25-jährige Philosophiestudentin Barbara Skarga ist die im Gefängnis allgegenwärtige Angst vor Vergewaltigung, Folter, Schmerzen, Hunger und der fortschreitenden emotionalen Abstumpfung. Entsetzlich ist für sie aber auch der Gestank von Menschen, die sich nicht regelmäßig waschen können. Der eigene Körper nimmt den für Sowjetgefängnisse typischen Geruch von Exkrementen, stinkendem Schweiß und dem sich zersetzenden Menstruationsblut von über 20 Frauen in einer Zelle an. Ein ganzes Jahr lang gibt es keine Watte, kein Toilettenpapier, keine Seife. Immerhin gelingt es den Frauen, sich einen Bottich Wasser pro Tag zu erkämpfen.

Das Essen besteht meist aus einer dünnen Suppe mit ein paar Kohlblättern oder Möhrenstückchen, aber ohne jedes Fett. Nach nur wenigen Monaten sind die Frauen nur noch Gerippe und durch die stundenlangen Verhöre, zu denen sie meist nachts gerufen werden, apathisch oder hysterisch. Immerhin: nach und nach setzt bei allen die Menstruation aus – ein Gestank weniger.

Skarga ist 37 Jahre alt, als sie endlich – zwölf Jahre nach der „Befreiung durch die Rote Armee“ – zurück nach Hause darf. Sie ist 65 Jahre alt, als sie ihre Erinnerungen aufschreibt. Die Grande Dame der polnischen Philosophie, die sich normalerweise mit französischem und deutschem Positivismus auseinandersetzt, schildert Extremsituationen. Gestank und verweigerte Hygiene seien ein Mittel der Folter. Mit der Zeit lösten sich menschliche Würde und Selbstachtung auf. Die stinkenden Gefangenen begannen sich vor sich selbst zu ekeln. Dieses Leitmotiv aus Selbstverachtung, Ekel und Gestank zieht sich durch das ganze Buch.

Warum sie eigentlich verhaftet und später als „Faschistin“ und „Kollaborateurin mit den Deutschen“ verurteilt wurde, berichtet sie erst später. Die konspirative Heimatarmee (Armia Krajowa oder AK), in deren Reihen sie gegen die deutschen Besatzer gekämpft hatte, war für die russischen Sowjets die „falsche Armee“, da die AK auf den Befehl der konservativen polnischen Exilregierung in London hörte. Die „richtige Armee“ hingegen war für den russisch-sowjetischen Geheimdienst die polnische Volksarmee (Armia Ludowa oder AL), die ebenfalls gegen die Deutschen kämpfte, aber auf den Befehl aus Moskau hörte.

Die assoziative Methode Skargas irritiert zu Beginn der Lektüre etwas, da nur Anfang und Ende des Buches auch der tatsächlichen Chronik der Ereignisse entsprechen, die Autorin sich aber ansonsten bemüht, ihre Erinnerungen thematisch zu ordnen. So heißen die Kapitel: „Der Alltag – das Gefängnis; Das Hospital; Die Arbeit; Der Alltag – das Lager; Die Liebe; Thea­ter und Schauspieler; Budjonowka; Die Grenze.“ Dadurch gibt es kaum Wiederholungen, obwohl Skarga in zwei Gefängnissen und mehreren Strafarbeitslagern des gigantischen Gulag-Systems einsitzt und am Ende noch ihr Leben in einer sibirischen Kolchose fristen muss.

Schuften bis zur Apathie: Strafgefangene in einem sowjetischen Arbeitslager zur Zeit Stalins Foto: akg-images/picture alliance

Im Laufe der Lektüre baut sich wie bei einem großen Puzzle die tatsächliche Chronologie der Ereignisse zu einem vollständigen Bild auf. Doch das Buch endet etwas abrupt am polnisch-ukrainischen Grenzübergang Medyka–Przemyśl. Dabei hätte man gerne noch gelesen, wie die da 37-jährige Skarga ihr Leben im nunmehr kommunistischen Nachkriegs-Warschau wiederaufbaut.

Die Stiftung Karta in Warschau geht von rund 570.000 Polen aus, die wie Skarga im und nach dem Zweiten Weltkrieg Repressionen des Sowjetregimes ausgesetzt waren. „Mein Mann Zygmunt Gluza und ich haben 1987 angefangen, das ‚Ost-Archiv‘ aufzubauen“, berichtet Alicja Gluza, sie ist stellvertretende Leiterin von Karta. „Die Anfänge waren sehr schwierig. Alles war hochgeheim und ­konspirativ, da es in der realsozialistischen Volksrepublik Polen verboten war, die Sowjetverbrechen zu erforschen und aufzuarbeiten.“

Gluza zeigt auf eine lange Reihe weiß eingebundener Bände: „Das ist der Index der Repressionierten.“ Seit dem politischen Wandel in Polen 1989/1990 konnten die Gluzas legal arbeiten, später auch Kontakt zur russischen Stiftung Memorial aufnehmen und Zehntausende Einzelschicksale von „im Osten verschollenen Polen“ klären. „Natürlich ist der Index inzwischen auch digitalisiert und für jeden Interessierten zugänglich“, so Gluza.

„Wir hatten auch mit Barbara Skarga Kontakt.“ Sie geht eine steile Wendeltreppe runter und zieht zielsicher ein Buch aus einem der Regale: „Hier! Das ist die Erstausgabe von ,Nach der Befreiung‘.“ Sie macht eine weite Armbewegung: „Das hier sind alles Erinnerungen, Memoiren, Tagebücher, Briefe und Fotos aus dem Osten. Nicht alle hatten das Glück, den Gulag oder die Verbannung nach Sibirien zu überleben.“ Insgesamt seien es 20 Millionen Menschen gewesen. Viele seien gestorben. „Wir bewahren hier das Andenken an die polnischen Opfer auf“, so Gluza. „Auch das von Barbara Skarga.“

Barbara Skarga: „Nach der Befreiung. Aufzeichnungen aus dem Gulag 1944–1956“. Übersetzt aus dem Nieder­ländischen von Bärbel Jänicke. Hoffmann und Campe, Hamburg 2024, 516 Seiten, 28 Euro