Neue ZDF-Serie „Simple“: Begrenzte Freiheiten

Die ZDF-Serie „Simple“ erzählt mit Humor von Frauen mit Beeinträchtigungen bei ihrem Kampf für ein autonomes Leben. Das ist erfrischend.

Vier Frauen sitzen und chillen.

Wohnen zusammen in einer WG: die vier Prot­ago­nis­t*in­nen in „Simple“ Foto: Daniel Escale/zdf

Die Schwierigkeit am Zusammenleben mit ihren Mitbewohnerinnen fasst Patricia, genannt Patri (Anna Marchessi), schon in der ersten Folge der spanischen Serie „Simple“ treffend zusammen: „Das Problem ist, dass jeder etwas völlig anderes unter Freiheit versteht.“

Für sie bedeutet das Einhalten von Regeln Freiheit, für ihre Mitbewohnerinnen mitunter eher das heimliche Übernachten am Strand und das Einkaufen von Chips und Süßigkeiten, obwohl die Ernährungspyramide in der Küche zu anderem ermahnt.

All diese Bedürfnisse zu navigieren und auch noch eine aufgeräumte Wohnung vorweisen zu können, wenn die Sozialarbeiterin Laia (Bruna Cusi) vorbeischaut, bietet Konfliktpotenzial zwischen den vier Frauen Patri, Marga, Ángels und Nati.

Das Drehbuch schrieb Anna R. Costas basierend auf einer Buchvorlage von Cristina Morales. Morales kritisierte im Rolling Stone unter der Überschrift „Nazi“ die beschönigte Darstellung der Sozialarbeiter in der Serienfassung. Costas erwiderte, sie habe ein differenziertes Bild von dem Beruf zeichnen wollen. Das gelang ihr zweifellos.

Sexuelle Bedürfnisse von Beeinträchtigten

Natürlich bleibt Freiheit für die Frauen sehr begrenzt: Immer wieder wird bei aller Freundlichkeit und Loyalität Laias in die körperliche und räumliche Autonomie der Frauen eingedrungen, werden im Notfall Zimmer durchsucht und gynäkologische Untersuchungen angeordnet. „Ist deine Wohnung immer aufgeräumt? Warum erwarten wir es dann von ihnen?“, fragt Laia ihre Vorgesetzte.

„Simple“, 5 Folgen

ZDFneo oder ZDF-Mediathek

„Simple“ bietet außerdem neue Blickwinkel auf ein völlig unterrepräsentiertes Thema: die sexuellen Bedürfnisse von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung. Marga (herausragend dargestellt von Natalia de Molina) ist sexsüchtig. Ihr wird eine Sterilisation nahegelegt, sie stimmt zu und lehnt dann doch ab.

Zustimmung – wie ungenau dieses Wort eigentlich ist, zeigt „Simple“ in Form von Perspektivwechseln, bei denen die Zuschauerschaft im medizinischen Vorgespräch von niederprasselnden Worten überwältigt wird wie die Protagonistin. Sie unterschreibt den Antrag auf Sterilisation mit einer gemalten Margarete, so wie ihr Name. Von Einverständnis kann hier kaum gesprochen werden.

Überdurchschnittlich häufig sterilisiert

Die Serie liefert eine weitere relevante Perspektive auf eine auch in Deutschland aktuelle Debatte: Eine 2012 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) veröffentlichte Studie zeigte, dass intellektuell beeinträchtigte Frauen in Deutschland überdurchschnittlich häufig sterilisiert sind oder stark wirkende Kontrazeptiva auch bei sexueller Abstinenz einnehmen.

Die Serie verbleibt nicht beim Händchenhalten und Kichern zwischen Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung, sondern zeigt Sex. „Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ nach dem Drama von Lukas Bärfuss brach dieses Tabu und blieb damit ein Einzelfall.

In „Simple“ sehen wir alles in mutigen Szenen mit zärtlicher Kameraführung, die die Körper der Frauen nie objektifiziert: Übergriffigkeit, Einvernehmlichkeit, Liebe, Lust und Selbstbewusstsein („Wenn wir zusammenziehen, müsstest du dringend einen Kurs für autonomes Leben machen, weil du dich im Haushalt ziemlich dämlich anstellst“, erklärt Patri etwa ihrem Freund).

Ähnlich wie Bechdel-Test

Es werden Eltern dargestellt, die von den sexuellen Bedürfnissen ihrer Kinder mit Beeinträchtigung irritiert sind, und es wird das Ringen um Inseln der Selbstbestimmung gezeigt, das Zurückerobern von Handlungsmacht in sehr beschränkten autonomen Räumen.

Analog zum schon bekannteren Bechdel-Test über die Darstellung von Frauen in Film und Serie existiert der DisRep-Test, auch Tyrion Lannister-Test genannt, vom Behindertenrechtsaktivisten Andrew Pulrang. Er fragt unter anderem, ob mindestens eine Figur mit Behinderung auftaucht, die von einer Person mit Behinderung dargestellt wird, nicht auf ihre Behinderung reduziert wird und die etwas „macht“, also nicht nur als Handlungsmotivator für Hauptfiguren fungiert.

Anna Marchessi, Darstellerin von Patri, hat selbst eine intellektuelle Beeinträchtigung, und „getan“ wird hier jede Menge. In der Schlussszene fragt Marga, ob sie auch dann noch behindert wäre, wenn sie der letzte Mensch auf der Welt sei. „Ja, klar“, antworten die anderen. „Aber dann könnte es keiner mehr zu mir sagen“, erwidert sie.

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