Leistungsdruck bei Arbeiterkindern: Der Fluch des besseren Lebens

Ihr sollt es mal besser haben als ich, sagen Arbeitereltern zu ihren Kindern. Und schicken sie auf eine Reise, bei der die Kinder nie ankommen können.

Ein Mann steht am Fenster im U-Bahnhof Nollendorfplatz und blickt auf einen Wohnblock.

Die Unzufriedenheit war von nun an das Problem ihrer Kinder Foto: Karl-Heinz Spremberg/imago

Ich möchte, dass ihr gut in der Schule seid, studiert, einen guten Beruf lernt und unabhängig seid. Ich möchte, dass ihr mal ein besseres Leben habt als ich.

Diese Sätze haben viele Arbeiterkinder gehört. Besonders beliebt sind sie bei proletarischen Eltern mit Migrationsgeschichte. Es sind Sätze, die ein volles Leben lang nachklingen und eine ganze Biografie bestimmen. Es sind gut gemeinte Sätze, die zur Plage werden. Es sind Sätze voller Zuversicht, die diese Kinder wie ein Fluch verfolgen.

Wie genau diese Sätze im Wortlaut formuliert werden, ist unerheblich. Wichtig ist die Macht dieser Sätze. Und dass die Kinder sie, wenn sie einmal ausgesprochen sind, nie wieder loswerden. Dass sie ihnen immer wieder durch den Kopf schießen, selbst wenn die Kinder längst keine Kinder mehr sind.

Dass sie diese Sätze ein Leben lang hören, ganz unabhängig davon, ob sie das, was ihre Eltern nicht hatten und was sie ihren Kindern gewünscht haben, erreicht haben oder nicht: Schule gut, Studium geschafft, Beruf gelernt, mehr Geld, mehr Unabhängigkeit, mehr Anerkennung, besseres Leben.

Die Sätze schießen ihnen zum Beispiel durch den Kopf, wenn sie abends nach Feierabend in der S-Bahn stehen und unzufrieden aus dem Fenster starren, weil ihr Arbeitstag zwar voll in Ordnung, aber nicht herausragend war.

Wenn sie das Gefühl haben, dass sie an diesem Tag zwar alle Anforderungen erfüllt, aber nichts Besonderes geschaffen haben: kein genialer Text, kein außergewöhnliches Lob, keine bemerkenswerte Wortmeldung. Wenn sie dann das Gefühl bekommen, dass das nicht reicht, dass es so nicht weitergeht auf diesem Weg nach oben, auf den ihre Eltern sie einst nur in bester Absicht losgeschickt haben.

Das Gewissen ist autoritärer

Wenn die Sätze ihnen also nach Feierabend in der S-Bahn durch den Kopf schießen und Zweifel auslösen, dann haben ihre Eltern sie fest im Würgegriff, obwohl es gerade gar keine Probleme gibt. Obwohl das Leben gerade so schön sein könnte. Eigentlich haben sie alles, was sie dafür brauchen. Aber nicht ihre Eltern haben sie fest im Würgegriff. Die wollen doch nur das Beste! Es ist ihr Gewissen, eine innere Stimme, eine Instanz, die geboren wurde, als ihre Eltern jene Sätze zum ersten Mal ausgesprochen haben.

Die Eltern dagegen haben sehr früh nicht mehr verstanden, was ihr Kind da eigentlich genau studiert, was es arbeitet und wonach es strebt. Aber wozu auch? Sie sahen ja, dass ihr Kind dabei war, einen ganz anderen Weg zu gehen als sie selbst. Das war genug, um sie zufrieden zu machen. Die Unzufriedenheit war von nun an das Problem ihrer Kinder.

Und denen passiert es, dass sie nach einem soliden Arbeitstag in der S-Bahn unzufrieden aus dem Fenster starren, als sie eine Nachricht von einem Elternteil bekommen. Darin wird ihnen mitgeteilt, wie stolz man auf sie ist und auf das, was sie erreicht haben.

Die schönen Worte können aber nichts anrichten gegen das gemeine und nie zufriedene Gewissen, gegen jene innere Stimme, die viel autoritärer und gewaltsamer ist, als es eine Mutter oder ein Vater jemals sein kann. Dieses Gewissen lacht dann sein Bösewichtlachen, würgt sie noch ein bisschen fester und flüstert ihnen die Sätze einmal mehr in die Ohren:

Ich möchte, dass ihr gut in der Schule seid, studiert, einen guten Beruf lernt und unabhängig seid. Ich möchte, dass ihr mal ein besseres Leben habt als ich.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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