Die Wahrheit: Gänsehaut unter der Trockenhaube
Vor dem Finale der Fußball-Europameisterschaft 2024 wird in Berlins beliebtestem queeren Friseurladen die Weltlage rund um Donald Trump erörtert.
Keine schwarzrotgoldene Wimpelgirlande ziert den Salon Lander, dafür flattert ab und zu an der Wand die große Regenbogenflagge, wenn sich der träge rotierende Ventilator nach links neigt und sein laues Lüftchen herüberweht. Doch auch in Berlins führendem queeren Friseurladen lässt es sich nicht vermeiden, im Sommer 2024 die aktuelle Lage der deutschen Nation vor dem Finale der Fußball-EM zu erörtern, selbst wenn sich hier in der Oranienstraße niemand als fußballfachkundig bezeichnen würde.
„Also ich hab ja noch kein Spiel gesehen“, gesteht Tecumseh, erste Schere am Platz und nonbinäre Person. Tecumseh ist unter der Mireille-Mathieu-Frisur so hoch wie breit, firmiert deshalb auf Tiktok auch als „schnippelnder Zauberwürfel“ oder kurz „Zaubermaus“ – und „maus“ sollen nicht nur die Follower, sondern auch die Kunden auf dem Friseurstuhl statt er oder sie als Pronomen für die Haarstylingkraft verwenden. Misgendern ist im Salon Lander bei Höchststrafe Sektentzug auf Lebenszeit strikt verboten.
„Teci, da hast du aber die Italiener verpasst. Oh Emm Dschi!“, freut sich bebenden Busens die Salonchefin. „Scamacca! Ein Riesenstürmer! Von Kopf bis Fuß tätowiert. Sieht nicht nur aus wie ein Schurke, klingt auch wie einer – Scarpia, Scaramanga, Scamacca … der Mann mit dem goldenen Schuss. Krieg ich sofort ’ne Gänsehaut.“
„Also Gänsehaut ist cool, goldenes Schießeisen noch cooler“, hebt Tecumseh den Mittelfinger mit dem edgy abgesplitterten grünen Nagellack, und beide kichern. Nur Fat Mo schüttelt grummelnd den Kopf.
Ellenbogen auf Besenstab
Drei Personen arbeiten in Kreuzbergs beliebtestem Coiffeur-Studio: Neben der Chefin Lale Lander ihre beste Freundin und Kollegin Tecumseh. Und dann ist da noch Fat Mo. Das alters- und geschlechtslose Besenwesen ist für das ordnungsgemäße Sortieren der Trockenhaubenmagazine zuständig, steht allerdings meistens im schattigen Hintergrund, mit den verschränkten Ellenbogen auf den Besenstab gestützt. Das Fegefaktotum hört alles und brummt manchmal irgendetwas in sich hinein, sagt aber nie ein Wort.
„Fat Mo spricht nicht, Fat Mo ist Opfer“, erklärt Tecumseh. Und die Meisterin ergänzt: „Genau, strukturelle Gewalt!“ Fat Mo habe ein dunkles Familiengeheimnis und leide unter den Geistern seiner Ahnen.
„Also wo ich von wech komm, heißt es: Machse nix – is eben Familie! Guck mal meine Eltern: Voll die Hippies und Indigenen-Fans. Von daher eigentlich totaler Exotismus“, meint Tecumseh, hin und her gerissen zwischen Stolz und Groll, nach einem legendären Häuptling benannt zu sein. „Ein Glück, dass es nicht Winnetou war.“
Poesie übers Maus-Sein
Neben „Also“, mit dem fast jeder Satz beginnt, ist Tecumsehs Lieblingswort „maus“, und übers Maus-Sein hat ein Verehrer, ein „berühmter Poet“, ein Gedicht verfasst, das Pink auf Weiß gerahmt neben dem Spiegel hängt und dessen leichter Spottgehalt dem Dichtobjekt der Begierde offenbar nicht bewusst ist, wenn maus das Werk neuen Kunden mit bühnenreif dramatischer Stimme vorträgt.
„Der Titel lautet ‚Alle Abzählreime sind Bastarde‘. Also, das geht so: Tecumseh liegt im Schnee, / ist kein Engel, jeden Schwengel / beißt maus ab, nicht zu knapp. // Tecumsah liebt Blabla, / frisst gern Bullen auf den Stullen, / schluckt maus fix, schmeckt nach nix. // Tecumsoh mag die Mo- / de aktuell, und superschnell / ist maus queer wie ein Stier. // Tecumsih lächelt nie, / belehrt alle, das Gequalle / fließt heraus – aus die Maus! // Tecumsuh, raus bist du!“
Farben vor der Brust
Die Chefin rollt mit den Augen und zupft fuchsig ihr „Check 24“-Trikot zurecht, zu oft hat sie die Verse gehört. Lieber will sie jetzt ernsthaft über die Fußball-EM, Nationalismus und die deutschen Farben reden, die sie niemals in ihrem Geschäft aufhängen würde, allerdings „aus Modegründen“ vor der Brust trägt: „Flaggen sind eigentlich schlechte Symbole, weil Nationalismus nicht erst ein Problem ist, wenn’s um Nazis geht. Meine Meinung!“, gibt sie zu bedenken, aber den Einwurf eines Kunden, dass auch die LGBTQ+-Bewegung ein Problem mit Gemeinschaftskitsch habe, weil sie die Regenbogenfahne als Symbol nutze, will Tecumseh so nicht stehen lassen.
„Also das ist ja gar kein Land. Aber es muss schon ein regelmäßiges und kritisches Hinterfragen der Nähe zum Nationalismus geben, das sage ich als antifaschistisch aktive Kreuzberger*in in diesem Friseurprojekt“, eilt Tecumseh mausflink der nickenden Chefin zuhilfe. So lang ist die Gender-Pause vor dem „*in“, dass Fat Mo herbeischlurft und knurrend ein paar Haare auf dem Boden zusammenfegt.
„Genau, aber schuld ist sowieso Trump“, lässt die Chefin das unheilvolle Wort einen Moment nachhallen, während alle überlegen, was der Make-America-Great-Again-Mann mit der Fußball-EM in Deutschland zu tun hat. „Trump“, versucht die Meisterin die Kurve zur Kernkompetenz Klatsch zu kriegen, „will Fußball in den USA als unamerikanisch verbieten, wenn er im Herbst wieder Präsident wird. Und deshalb dürfen die Amerikaner jetzt schon nicht mitspielen.“ Das habe sie aus erster Hand von einer alten Freundin aus Bel Air erfahren.
„Lale, sagt die Kim zu mir, der Kanye hat das eingefädelt“, sprudelt es aus Frau Lander.
„Also Kanye West heißt ja jetzt Ye“, ergänzt Tecumseh: „Der hat, wie ich gehört habe, alle Trikots von Adidas aufgekauft, von daher spielt die deutsche Mannschaft in Pink.“
„Genau, sag ich doch“, bestätigt die Chefin, „Ye ist der beste Freund von Trump, und Kim Kardashian ist schuld an seinem Nervenzusammenbruch …“
„Von Trump?“
„Nein, von Kim!“
„Von Kim?“
„Nein, von Kanye! Also von Ye. Und der kennt Trump.“
„Also darum tritt Trump, der Orange-Man, jetzt in Pink auf?“
„Genau!“
Schweigen in der Wolke
Einen Augenblick lang sind die beiden Haar- und Redekünstler*innen selbst schwer verwirrt. Auch die Kunden, eingehüllt in ihre Umhänge und eine Wolke Haarspray, schauen sich irritiert an. Ein großes Schweigen liegt über dem Salon Lander.
„Also eins ist hundertpro maussicher: Die Deutschen gewinnen das Endspiel“, rettet Tecumseh die Vergaloppierten mit einem hammerharten Befreiungsschlag aus der unübersichtlichen Situation. „Queer werden Weltmeister!“, verwandelt Frau Lander die Vorlage. „Genau!“, raunt es durchdringend aus der Tiefe des Raumes. Alle fahren zusammen. Fat Mo hat gesprochen!
Abgesehen davon, dass es nur der Europameistertitel ist und die Deutschen längst ausgeschieden sind, scheint es der Besenschwinger exakt zu wissen. Inzwischen hat er wieder sein Arbeitsgesicht aufgesetzt und fegt stumm die letzten Haarreste zusammen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Strategien gegen Fake-News
Das Dilemma der freien Rede