der rote faden
: Als ich Nancy Faeser im Olympiastadion düpierte

Foto: Wolfgang Borrs

Durch die Woche mit Gunnar Hinck

Diese Woche habe ich mich bei der Uefa eingeschleust. Österreich gegen Polen in Berlin, also mal schnell mit dem Rad zum Olympiastadion, ein bisschen EM-Atmosphäre vor dem Stadion aufnehmen. Es läuft schon die zweite Halbzeit, da entdecke ich, wie ein Mann einen der altmodischen Eingänge aus Eisenstreben ein bisschen aufschiebt und rausgeht. Ich warte ab, bis der Security-Mann dahinter kurz abgelenkt ist, schlüpfe durch, finde einen Tribünenaufgang ohne Security, wo man eigentlich noch mal sein Ticket vorzeigen muss, und eine Minute später stehe ich inmitten von österreichischen und polnischen Fans. Das Spiel interessiert mich weniger, sondern ich sauge die Farbenpracht und die überwältigende Geräuschkulisse von über 70.000 Zuschauern auf.

Hineinspaziert

Gelangweilt

Wäre ich Terrorist, hätte ich problemlos drei Pistolen unter Gürtel und T-Shirt verstecken und ein Blutbad anrichten können (liebe Sicherheitsbehörden, Konjunktiv!). Und wäre ich Terrorist, hätte ich sicherlich problemlos noch drei Komplizen ins Stadion einschleusen können. Innere Sicherheit ist die graue Maus der Politik. So richtig ­interessiert sich die Öffentlichkeit dafür nur, wenn etwas schiefgeht. Dann sind die InnenpolitikerInnen rhetorisch zur Stelle: „lückenlose Aufklärung“, „mit aller Härte“, „nie wieder“, was man so sagt, um von den Fehlern des Apparats, den man zu verantworten hat, abzulenken.

Baerbock

Auf dem Rückweg musste ich an Nancy Faeser denken. Kurz vor der EM versprach die Innenministerin, dass die Sicherheit während des Turniers „oberste Priorität“ habe. Sicherheitspolitik ist zu einem Teil Symbolik, rhetorische Beruhigung für die Massen und öffentliches „Präsenz-Zeigen“. Präsenz zeigten rund ums Stadion Hundertschaften von Polizisten, die gelangweilt in ihren Mannschaftswagen herumsaßen, während sie die privaten Security-Leute am und im Stadion allein lassen mussten (Stadien sind während der EM Uefa-Territorium). Es stünde uns Medien gut an, die Floskeln, die PolitkerInnen tagein, tagaus so von sich geben, mal ein bisschen intensiver zu hinterfragen – auch die vermeintlich selbstverständlichen Statements und nicht nur die sogenannten Aufreger, die Social Media täglich hochspült. Aufschlussreiche Rhetorik bot diese Woche mal wieder Annalena Baerbock. Wikileaks-Gründer Julian Assange ist nach über 13 Jahren überraschend ein freier Mann. O-Ton Baerbock: „Ich kann nur sagen, dass ich sehr froh bin, dass dieser Fall, der überall auf der Welt sehr emotional diskutiert wurde und viele Menschen bewegt hat, dass er nun endlich eine Lösung gefunden hat.“

Vorbild Merz

Ein typischer Baerbock-Satz mit dem für sie obligatorischen Gefühls-Modul. Interessanter wäre zu wissen, warum sich Baerbock als Außenministerin eher wenig für Assange interessiert hatte, wie eine Recherche des Kollegen Michael Sontheimer in der taz vor einem halben Jahr gezeigt hat. Wertegeleitete Außenpolitik, war da was? Einen Tiefpunkt politischer Rhetorik lieferten diese Woche Politiker von CDU/CSU: Via Bild am Sonntag bellte CSU-Mann Alexander Dobrindt die ukrai­nischen Flüchtlinge an: „Arbeitsaufnahme in Deutschland oder Rückkehr in sichere Gebiete der Westukraine.“ Der CDU-Innenminister in Brandenburg griff in eine noch tiefere Schublade und sprach von „fahnenflüchtigen Ukrainern“, die „alimentiert“ würden. Übersetzt: die Ukrainer, das arbeitsscheue Gesindel, das nicht kämpfen will. Da wollen sie wohl ein paar Sympathiepunkte von der AfD-Klientel abfischen, anstatt konkret dafür zu sorgen, dass die UkrainerInnen in Arbeit kommen (und ehrlicherweise zuzugeben, dass es wegen fehlender Sprachkenntnisse und Kinderbetreuung eben nicht für alle funktionieren wird). Es passieren jedoch noch Überraschungen: Friedrich Merz sagt laut Süddeutscher Zeitung in einer Unions-Fraktionssitzung: „Wir brauchen sie (für den Arbeitsmarkt).“ Das zu erreichen sei aber „eine Aufgabe der Politik und nicht in erster Linie eine Aufgabe der Flüchtlinge“. Ich hätte nicht gedacht, dass Merz, was politische Sprache (und Inhalte) angeht, eine Stimme der Vernunft sein kann.

Nächste Woche: Lukas Wallraff