Behindertenfeindliche Übergriffe: Die alltägliche Gewalt

Die behindertenfeindlichen Angriffe von Mönchengladbach erinnern an ganz dunkle Zeiten. Aber „Euthanasie“-Drohungen sind auch Teil der Geschichte der BRD.

zersprungenes Glas in einer Tür

Eingeschlagene Tür der Lebenshilfe in Möchengladbach Foto: Lebenshilfe Mönchengladbach

Zuerst wird ein Ziegelstein in die Eingangstür der Geschäftsstelle der Lebenshilfe in Mönchengladbach geworfen. Die implizierte Botschaft: bedrohte Sicherheit.

Wenige Tage später fliegt ein weiterer Stein. Diesmal gegen die Hauswand einer Wohnstätte von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen der lokalen Lebenshilfe. Die Aufschrift auf dem Wurfgeschoss, „Euthanasie ist die Lösung“, transportiert noch mehr: Der oder die Täter_innen rufen die Verbrechen der Nazis auf. Naheliegenderweise sind sie selbst welche.

Die Message ist eine Morddrohung, gar eine Massenmorddrohung; sie soll Verunsicherung, Angst und Schrecken unter den Menschen verbreiten, die hinter der Hauswand zu Hause sind. Außerdem soll sie Signalwirkung an alle Menschen mit vor allem kognitiven Beeinträchtigungen entfalten – und: an Angehörige, an Freund_innen wie auch an die Mit­ar­bei­te­r_in­nen sowie Lei­te­r_in­nen von Einrichtungen zum Wohnen oder Arbeiten. Es ist eine massive Form verbaler, psychischer Gewalt.

Der Begriff der „Lösung“ verweist dabei zusammen mit den „Euthanasiemorden“ nicht nur semantisch auf die „Endlösung der Judenfrage“ und damit auf den über sechsmillionenfachen Mord an Jüd_innen. Aufgerufen wird damit auch eine mit Exklusion verbundene und das Lebensrecht absprechende Konstruktion von Menschen mit Beeinträchtigungen beziehungsweise chronischen Erkrankungen als vermeintliches biopolitisches Problem und ökonomischer wie sozialer Ballast. Nicht zuletzt sollen die beiden zerstörerischen Geschosse eine vermeintliche Verzichtbarkeit dieser Einrichtungen versinnbildlichen.

Mindestens 300.000 Menschen mit Beeinträchtigungen und Erkrankungen wurden im Zuge des planmäßigen „Euthanasie“-Programms zwischen 1939 und 1945 in Europa insbesondere in den Gastötungsanstalten ermordet; für Osteuropa liegen bislang lediglich Schätzungen vor. Vor 1939 starben in Deutschland bereits seit Sommer 1933 mehrere Tausend Menschen an den Folgen von Zwangssterilisierungen sowie erzwungenen Abtreibungen. In der „T4-Aktion“ mordeten Nazis erstmals systematisch und massenhaft: 70.000 Menschen, die in sogenannten Heil- und Pflegeanstalten lebten. Das Mordprogramm gilt nicht zuletzt aufgrund seines Testcharakters mit Giftgas als Vorstufe des industriellen Massenmords an den europäischen Jüd_innen.

Ein Einzelfall sind die beiden Übergriffe auf die Lebenshilfe in Mönchengladbach nicht, ebenso wenig sind sie neu. Denn Angriffe von (mutmaßlich) extrem rechten Täter_innen gegen Menschen mit Beeinträchtigungen hat es auch nach der Nazi-Herrschaft immer wieder gegeben. Die 1990er und nuller Jahre waren ein bitterer Höhepunkt: kaum thematisierte und bislang unerforschte Baseballschlägerjahre.

Ähnliches wie die beiden Angriffe in Mönchengladbach passierte damals in Hameln und Bremen: Am 26. 10. 1992 berichtete der Weserkurier, dass ein Mann in einem Wohnheim der Lebenshilfe in Hameln angerufen und dabei die Ermordung der Be­woh­ne­r_in­nen und Mit­ar­bei­te­r_in­nen mit Giftgas gefordert hatte. Wenige Wochen später war in der taz vom 5. 12. 1992 nachzulesen, dass Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen und Mitarbeitende einer Schule für Kinder mit Behinderungen in Bremen anonyme Drohanrufe erhielten. Eine Mutter kritisierte, dass die Polizei zunächst nicht einmal eine Anzeige aufnehmen wollte. Eltern organisierten schließlich selbst Schutz vor der Schule.

Durch den Sparkurs werden Sozialausgaben als Belastung gerahmt und die Konkurrenz um Ressourcen wird verschärft.

Der Blick auf die Todesopfer rechter Gewalt zeigt, dass es nicht bei Drohungen bleibt. Mindestens 15 Menschen sind seit 1990 beispielsweise im Bundesland Sachsen-Anhalt von rechten und rassistisch motivierten Tätern getötet worden, schreibt die dortige Mobile Opferberatung. Vier von ihnen hatten eine kognitive Beeinträchtigung: Im Jahr 1999 wurden Jörg Danek in Halle-Neustadt und Hans-Werner Gärtner im Saalekreis ermordet. Erst Jahre später, 2012, wurden beide durch die Landesregierung offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.

Als Verdachtsfälle werden zudem die Tötung von Andreas Oertel in Naumburg 2003 und Hans-Joachim Sbrzesny in Dessau-Roßlau 2008 genannt. Wenn an diese Todesopfer erinnert wird, dann bislang nur, weil dies zivilgesellschaftlich organisiert wird. Das liegt auch daran, dass Behindertenfeindlichkeit als Tatmotiv von Ermittlungsbehörden wie auch von Medien nur selten in Betracht gezogen wird.

Verteilungskämpfe verschärfen die Lage

Zudem sind die aktuellen Gewalttaten in Mönchengladbach als Teil des Kampfes um sozialstaatliche Ressourcen zu verstehen. Dies gerade in einer Zeit, in der beispielsweise Finanzminister Christian Lindner (FDP) ein dreijähriges Moratorium für die Erhöhung von Sozialausgaben fordert.

Zumindest indirekt werden diese Ausgaben damit als eine Art Belastung des Haushalts gerahmt, anstatt als selbstverständliche sozialstaatliche Absicherung, ja, als politische Errungenschaft, die es aus- und nicht abzubauen gilt. So verschärfen sich Konkurrenzen um Ressourcen, die zudem als Teil struktureller Gewalt gegen Menschen mit verschiedenen Formen von Beeinträchtigungen verstanden werden können.

Mit einer Diskursverschiebung nach rechts – seit mindestens einer Dekade werden wieder Aussagen getätigt, die im öffentlichen Raum zwischenzeitlich als nichtsagbar galten – fühlen sich Personen legitimiert oder ermuntert, wie in Mönchengladbach Gewalt anzuwenden. Hört man Betroffenen zu, was ihnen etwa auf der Straße widerfährt, kann man darauf schließen, dass solche Morddrohungen für Menschen mit Beeinträchtigungen schon länger und immer wieder Teil ihres Alltags sind. Die Bedrohung mit dem Tod meint demokratisch gesehen uns alle. In Frage gestellt sind damit ein diskriminierungs- und gewaltfreies Leben, Freiheit, Gleichheit, Gleichwertigkeit und soziale Gerechtigkeit.

Dem Hass entgegenwirken

Die Lebenshilfe Mönchengladbach mobilisierte für den 6. Juni 2024 zu einer Solidaritätskundgebung unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ in der Hauptkirche Rheydt und auf dem davorliegenden Marktplatz. Rund 1.000 Menschen nahmen einem WDR 1-Bericht zufolge daran teil. Zu Jahresbeginn hatten die Demonstrationen gegen rechts in der Stadt – je nach Angaben – zwischen 5.000 und 7.000 Menschen zusammengebracht. Daher darf und muss die Frage gestellt werden, weshalb es nunmehr so viele weniger gewesen sind.

Medial wurde über die Attacken kaum berichtet, insbesondere überregional. Eine solche Ignoranzstarre gab es bereits nach den vierfachen Morden in Potsdam oder, als in Sinzig im Ahrtal 12 Bewohner_innen in den Fluten ertranken. So wird die Gesellschaft wohl eher vor sich selbst geschützt. Minoritäten-Schutz, Stimmen hörbar machen und Empowerment sähen anders aus.

Die Attacken auf die Geschäftsstelle und ein Wohnprojekt der Lebenshilfe und damit ihre 30 Bewohner_innen und Mitarbeiter_innen sind eingebettet in strukturelle Gewalt gegen Menschen mit Beeinträchtigungen in dieser Gesellschaft wie auch in Formen direkter, körperlicher, oftmals sexualisierter Gewalt. Das Rechercheprojekt #AbleismusTötet der Behinderten- und Menschenrechtsorganisation AbilityWatch beispielsweise dokumentiert mit Stand Mai 2023 218 Betroffene in 43 Fällen von Gewalt „in vollstationären Wohneinrichtungen für behinderte Menschen“ in der Bundesrepublik.

Die Spitze des Eisbergs war die Ermordung von vier Menschen mit Behinderung im Oberlinhaus in Potsdam (Brandenburg) durch eine Pflegehelferin am 28. April 2021. Eine weitere Person wurde schwer verletzt. Danach wurden von den Macher_innen von #AbleismusTötet sofortige und langfristige Maßnahmen entwickelt. Eine davon zielt auf die gesetzliche Verankerung von Wohn- und Gewaltpräventionskonzepten. Diese Forderung aufgreifend möchten wir ergänzen: Das Thema möglicher Angriffe durch extreme Rechte (und zwar von außen wie von innen durch etwaige rechtsextreme Mitarbeitende) sollte in demokratischen Leitbildern und Schutzkonzepten systematisch mitgedacht werden.

Gesellschaftlich scheint politische Bildung zu den Verbrechen an Menschen mit Beeinträchtigungen während der Nazizeit und eine breite Debatte dazu bitter nötig. Die Gedenkstätten der sechs früheren Mordanstalten leisten hier viel, berichtet wird auch darüber sehr selten. Die Gedenkstätte Hadamar ist bereits seit 2003 Vorreiterin in der Entwicklung von historisch-politischen Bildungsangeboten auch mit und für Menschen mit Lernschwierigkeiten.

Interviews wie auch die gedenkstättenpädagogische Reflexion dieser Arbeit zeigen zum einen, dass sie sich – anders als oft bei Menschen ohne Beeinträchtigung – empathisch zeigen mit den Opfern der Verbrechen. Zum anderen, so schreibt es die Soziologin Uta George, „wird deutlich, wie die Beschäftigung mit der Geschichte der NS-„Euthanasie“-Verbrechen zu Empowerment führt: ganz offensichtlich wird die Auseinandersetzung mit diesem Teil des Nationalsozialismus nicht als erneute Machtlosigkeit oder Reviktimisierung erlebt“.

Die Gedenkstätte erhielt durch die beteiligten Menschen mit Lernschwierigkeiten über diese Einsichten hinaus die Anregung für eine Gedenkzeremonie für Besucher_innen und Einblicke in eine bislang unbekannte Nutzung eines Ausstellungsobjekts vor Ort durch Betroffene, wie George beschreibt: So entschieden sich Teilnehmer_innen mit Lernschwierigkeiten für die Fotos, die sie von der im Jahr 2006 wieder aufgebauten Busgarage – die 1941 Ankunftsort für die Opfer gewesen ist – für eine für die Mitarbeitenden „verblüffende“ Perspektive: Während die Gedenkstätte stets den Fokus auf das Äußere der Garage richtete, „wählten viele Teilnehmende die Perspektive von innen, das heißt die Blickrichtung der Opfer bei der Ankunft an diesem Ort“. Dieser Blickwinkel, so Uta George, lässt „vermutlich auf eine hohe Empathie mit dem Schicksal der Opfer“ schließen.

Auch vor diesem Hintergrund liegt es nahe, zudem partizipativ entwickelte Konzepte für die politische Bildung zur extremen Rechten auch für Menschen mit unterschiedlichen kognitiven Beeinträchtigungen zu fordern – und ohnehin ein breites Angebot für Selbstbehauptung und Empowerment.

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ist Politik- und Sozial­wissen­schaftler*in an der Hochschule Düsseldorf. Leidinger ist seit 2018 Pro­fes­so­r*in für Soziologie mit Schwerpunkt Geschlechtersoziologie.

ist Erziehungs­wissen­schaftler*in an der BTU Cottbus. Seit 2017 ist Radvan Pro­fes­so­r*in für „Methoden und Theorien Sozialer Arbeit“ an der Brandenburgisch-Technischen Universität in Cottbus. Im Jahr 2020 war sie Preis­trä­ge­r*in des Alice-Salomon-Awards.

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