Foto: Stefan Schwenke/imago

Bürgerentscheid über Nationalpark:Schutz oder Nutz

In Ostwestfalen entscheiden Bürger, ob ein neuer National­park entsteht. Dabei prallen zwei unterschiedliche Konzeptionen von Naturschutz aufeinander.

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12.6.2024, 16:20  Uhr

Jemand hat eine einsame Zimmerpalme auf die Bühne gestellt, ganz an den Rand. Sie steht da etwas verloren neben Tischen, Stühlen und Rednerpult, dabei soll es am Dienstagabend vergangener Woche doch um Bäume gehen und um Natur. In der, laut Moderator, „wunderschönen Steinheimer Stadthalle“, sitzen etwa 350 Männer und Frauen auf grauen Stühlen, viele ältere, wenige ganz junge, viele dazwischen.

In dem großen Saal mit hellem Laminat begrüßt der Landrat des Kreises Höxter, Michael Stickeln, das Publikum: Die knapp 13.000 Stein­hei­me­r:in­nen sollen eine „faktenbasierte Grundlage“ für ihre Abstimmung über die Bewerbung des Kreises für einen „Nationalpark Egge“ erhalten, auf insgesamt rund 12.000 Hektar landeseigener Waldflächen. „Ausdrücklich“ dankt er Josef Tumbrinck, Staatssekretär im Landesumweltministerium dafür, den „weiten Weg von Düsseldorf hierher nach Ostwestfalen“ gemacht zu haben.

Das könnte man, zu Beginn des Abends, noch für eine Spitze halten, à la „die da aus der fernen Landeshauptstadt wollen uns hier auf dem Land was über Naturschutz erzählen“. Vor allem weil Tumbrinck, mit Schnauzbart und langer Mähne, im konservativen Ostwestfalen etwas zottelig daherkommt und vor seiner Zeit im Bundes- und Landesumweltministerium auch noch lange Jahre streitbarer Vorsitzender des Nabu NRW war.

Aber im Laufe der Debatte keimt der Verdacht: Vielleicht hat der Landrat das einfach so höflich gemeint, wie er es gesagt hat. Stickeln macht zu keiner Zeit einen Hehl daraus, dass er einen „Na­tionalpark Egge“ nicht für nötig, sogar für schädlich hält in seinem Kreisgebiet. Aber er macht das zurückhaltend, eher sachlich. So wie die ganze Diskussion zurückhaltend abläuft, erstaunlich sachlich und informativ.

Harald Gläser, Förster des Stadtwaldes

„Bei Befürwortern klingt es, als müsse man den Wald vor Förstern schützen“

Dabei geht es in Steinheim um die ganz großen Fragen: Was ist Natur? Was bedeutet es, Natur zu schützen? Müssen Menschen Natur – also Pflanzen, Tiere, Pilze – managen? Sie züchten, pflegen, ihnen einen Ort zuweisen, an dem sie leben können? Oder, ganz im Gegenteil, müssen Menschen der Natur Räume schaffen, in denen sie sich alleine entwickeln kann und Förster oder Naturschutzbehörden sich raushalten? Es sind Fragen, wegen denen Landwirte in den letzten Monaten Straßen blockiert und Galgen aufgestellt haben und wegen denen Aktivisten Kartoffelbrei auf Bilder werfen. Vor der Stadthalle in Steinheim parkt der Trecker mit Protestplakat brav auf dem Seitenstreifen – jeder kommt daran vorbei.

Das kleine Städtchen Steinheim liegt im Kreis Höxter, einer sehr ländlichen Region zwischen Paderborn, Bielefeld, Hannover und Kassel. Zeitgleich mit dem Kreis Paderborn stimmen die 143.000 Einwohner des Kreises noch bis zum heutigen Mittwoch darüber ab, ob sich die Region bei der Landesregierung als Standort für den zweiten Nationalpark NRWs bewerben soll.

Martina Denkner, Bernd Behling und Gerhard Antoni (vlnr.) machen seit Jahren grüne Politik in der Region Foto: Heike Holdinghausen

Dass Nordrhein-Westfalen neben dem Nationalpark Eifel ein zweites Gebiet einrichtet, in dem sich die Natur ohne forst- oder landwirtschaftliche Nutzung selbst überlassen bleibt und Wildnis werden darf, das hatten CDU und Grüne vor zwei Jahren in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten. Allerdings sollte die Bevölkerung vor Ort aktiv beteiligt werden, das heißt: Der Ruf nach einem Nationalpark sollte aus den infrage kommenden Regionen kommen, etwa dem waldreichen Sauerland, Siegerland-Wittgenstein oder eben Ostwestfalen. Doch im ganzen Bundesland fand sich keine Region, überall entschieden die zuständigen Kreistage, sich nicht zu bewerben. Auch der Kreistag von Höxter hatte gegen den Nationalpark gestimmt.

Doch ausgerechnet in Ostwestfalen, wo seit 70 Jahren mit sicherer Mehrheit die CDU regiert, bildete sich eine breite Bewegung, die diese Entscheidung der Volksvertreter nicht akzeptieren wollte. Sie setzte ein zweistufiges Verfahren in Gang, in dem die Bevölkerung zunächst in einem Bürgerbegehren mehrheitlich für den Na­tio­nalpark stimmte.

Da der Kreis sich diesem ­Votum widersetzte, folgt nun Teil zwei: der Bürgerentscheid. Hier sind die Hürden für einen Erfolg deutlich höher: Nicht nur die Mehrheit muss die Frage „Soll der Kreis Höxter beim Umweltministerium NRW einen Antrag auf die Errichtung eines Nationalparks auf den landeseigenen Flächen der Eggeregion stellen?“ mit Ja beantworten; es müssen auch mindestens 20 Prozent der 117.000 Stimmberechtigten für Ja stimmen, also 23.000 Wähler:innen. Wenn sie das tun, muss der Kreistag seine Ablehnung kassieren und sich bewerben. Bis Freitag waren 57.629 Abstimmungsbriefe in der Kreisverwaltung eingegangen – die Beteiligung ist also enorm. Die Podiumsdiskussion in Steinheim war eine der letzten Informationsveranstaltungen.

Einige Stunden vor der Debatte sitzen Martina Denkner, 65, Gerhard Antoni, 60 und Bernd Behling, 68, in einem Café am Eingang der Steinheimer Fußgängerzone. Seit Jahren machen die drei gemeinsam an verschiedenen Orten grüne Politik im Kreis Höxter; Behling, der zum quietschgrünen Jackett grüne Schuhe und eine grüne Brille trägt, als Stadtrat in Steinheim, Denkner und Antoni als Kreistagsabgeordnete. Alle drei sind wahlkampfgestählt, Flyer und Aufkleber für die Europawahl in Fußgängerzonen verteilen, kein Problem.

Auch für den Nationalpark haben sie in Fußgängerzonen und auf Marktplätzen geworben und dabei widersprüchliche Erfahrungen gemacht: „So viel Zuspruch habe ich noch nie bekommen“, sagt Denkner, „das war äußerst angenehm.“ Allerdings, sagt die elegante Frau, dunkelblaues Kleid, graue Hochsteckfrisur, habe sie die Diskussionen auch als aggressiv empfunden, zum Teil persönlich verletzend.

„Ist doch klar“, sagt Antoni, der im orange­farbenen T-Shirt und grauer Strickjacke wie ein Religionslehrer aussieht – und das ist er auch –, „der Bürgerentscheid ist ein Machtverlust für gewählte Politiker. Die Bürger wählen, obwohl die Politiker schon entschieden haben – damit muss man erst mal klarkommen.“ Er stellt die Kaffeetasse ab und springt auf. „Hallo, Herr Schützenkönig“, ruft er und schüttelt einem Passanten die Hand. Der hat nicht nur beim Wettschießen gewonnen, sondern sitzt auch für die CDU im Kreistag. „Na, auch schon angereist?“, frotzelt er in die Runde und verabschiedet sich.

Man kenne sich hier, sagt Martina Denkner, „alle wissen alles von allen, entsprechend sind die Leute vorsichtig mit ihren Äußerungen“. Andererseits biete diese soziale Enge auch Sicherheit, „wir wissen, dass wir miteinander auskommen müssen“. Daher seien Bürgerbegehren und Bürgerentscheid das forderndste, aber auch das spannendste politische Projekt, das sie bisher begleitet haben, sagen Denkner, Behling und Antoni. „Diese Schwarmintelligenz, die sich hier gezeigt hat, die fasziniert mich“, sagt Denkner. Normalerweise müsse man hier in der Gegend „mit jemandem erst einen Sack Salz essen, bevor man sich vertraut“.

Aufbruch Richtung Stadthalle, Antoni verabschiedet sich, seine Schüler stehen gerade mitten in der Abiturphase, „ich muss in eine Notenkonferenz, das geht vor“. Gegen halb sechs schlendern die ersten Be­su­che­r:in­nen über den Parkplatz vor der Halle, überall hängen noch die weiß-grünen Wimpel vom Schützenfest. Ein Grüppchen von Nationalparksbefürwortern wirbt auf Pappschildern für „ein Herz für den Nationalpark Egge“, Denkner und Behling reihen sich ein.

Die Leute auf dem Bürgerpodium fragen, ob man Holz künftig importieren müsse

Ein paar Meter entfernt verteilt auch Christa Ridder Flyer, allerdings gegen den Nationalpark. In schwarzweiß karierten Hosen, weißer Bluse und schwarzer Jacke steht sie da, eine resolute 64-Jährige mit kurzen grauen Haaren. „Die Egge ist gut so, wie sie ist“, sagt sie. Eine Frau klopft ihr auf die Schulter, „sehr gut, dass du schon hier bist“, sagt sie, „wieder mal“, sagt Ridder, und beide lachen. „Ich mach das ja schon zum dritten Mal“, sagt sie.

Naturschützer haben die Region Ostwestfalen und einen möglichen Nationalpark Senne, Egge, Teutoburger Wald seit den 1990er Jahren im Auge. Bislang sind sie stets am Widerstand der Region gescheitert, also auch an Christa Ridder. Unter dem Motto „Ja zur Natur, Nein zum Natio­nalpark“ ruft der Verein „Unsere Egge“ mit Unterstützung von CDU und FDP zum Neinstimmen auf. „Ich muss jetzt rein“, ruft sie und eilt davon, kommt aber extra nochmal zurück. Ihr sei es wichtig zu sagen: „Ich finde den ganzen Prozess und den Bürgerentscheid übrigens vollkommen richtig, in so einer strittigen Frage müssen die Bürger direkt entscheiden.“ Sie verschwindet in der Halle; nach der Begrüßung des Landrats folgt die Diskussion auf dem Podium.

Ganz paritätisch besetzt ist es nicht: Als Befürworter sind Josef Tumbrinck vom Umweltministerium und Hans Jürgen Wessels vom Förderverein Nationalpark Senne-Eggegebirge eingeladen, als Gegner sitzen neben dem Landrat Stickeln die ­Geschäftsführerin der IHK Ostwestfalen zu Bielefeld, die Förster Roland Schockemöle und Harald Gläser sowie Frank Grawe von der Landschaftsstation im Kreis Höxter, zuständig für die Naturschutzgebiete im Kreis, auf der Bühne. Befürworter und Gegner des Nationalparks entwerfen gegen­sätzliche Konzepte von Natur: Trumbrinck und Wessels fechten für Wildnis, dafür, Natur machen zu lassen, unbeeinflusste Prozesse zu beobachten und von ihnen zu lernen, gerade in Zeiten des Klimawandels, in denen alte Gewissheiten auch aus der Forstwirtschaft nicht mehr gelten würden. Sie betonen die ökonomischen Chancen, die ein Nationalpark biete: für den Tourismus, aber auch für die Lebensqualität der Menschen vor Ort.

Waldschutz klassisch: Wegen Borkenkäfer gefällte Bäume als Nährstoff für neue Foto: Jochen Tack/imago

Die Gegner verweisen auf die ökonomische Bedeutung des „Clusters Holz“. Vor allem aber halten sie gerade in der gefährdeten Natur der Gegenwart ein eingreifendes Management des Menschen für erforderlich: Fachleute müssten klimaresiliente Baumarten auswählen und pflanzen, um die in den Dürrejahren abgestorbenen Fichtenwälder durch Laubmischwälder zu ersetzen, und überhaupt: „Bei den Befürwortern des Nationalparks klingt es so, als müsse man den Wald vor den Förstern und den Waldbesitzern schützen“, sagt Harald Gläser, Förster des Stadtwaldes im nahegelegenen Brakel. Dabei begreife auch er als Förster den Wald als lebendigen Organismus, Nachhaltigkeit sei gelebte Praxis.

Im Laufe des Abends lernt das Publikum die Waldentwicklungsphasen nach Scherzinger kennen, bekommt eine Einführung in die Kohlen­dioxidbilanzierung in Wäldern, in die Holzverluste durch Dürren und Stürme der vergangenen Jahre, den Waldumbau in der Egge, in die Poten­ziale der Industrie, des Tourismus. Wie man denn den Fachkräftemangel in dieser Branche beheben wolle, fragt einer. Wer denn die Begleitforschung im Nationalpark übernehme, ob die lokalen Wissenschaftseinrichtungen einbezogen würden, ein anderer. Die Leute fragen, welche Arten in der Egge schützenswert seien, ob man Holz künftig importieren müsse, wenn man heimische Wälder nicht mehr nutze, was der Unterschied zwischen einem Nationalpark und einem Naturschutzgebiet sei, ob es künftig auch Kraniche nach Ostwestfalen ziehen würde.

Nein, keine Kraniche, zu wenig Wasser. Im Naturschutzgebiet kann noch Forstwirtschaft betrieben werden, im Nationalpark nicht. Die Waldfläche im Nationalpark sei zu klein, um die Import-Export-Statistik für Holz zu beeinflussen, es gebe in umliegenden Wäldern genug Holz für die Region. Für Forschung sei der Bund zuständig, für den Fachkräftemangel hat keiner eine Lösung. Für Reiter, Fahrradfahrer und Wanderer bleibe die Egge auch als Nationalpark offen, und wie die „Nationalparkverordnung“, also das Regelwerk, das Schutz und Nutzung eines Nationalparks regelt, gestaltet werde, das werde das Ministerium zusammen mit der Bevölkerung aushandeln.

Im Publikum bilden sich Klatschfraktionen. Vorne, in den ersten Reihen und ganz hinten sitzen Gegner des Nationalparks. Jeder Fakt, jede Aussage des Landrats oder der Förster wird laut beklatscht. Eher in der Mitte sitzen Nationalparksbefürworter: Sie klatschen, wenn Tumbrinck oder Wessels sprechen. Zwischenrufe gibt es nicht; nur als Förster Gläser sich sehr deutlich nicht an die vorgeschriebene Redezeitgrenze von zwei Minuten hält, wird es etwas unruhig.

Am Ende: Erschöpfung. Aber auch das erfrischende Gefühl, wirklich etwas geboten bekommen zu haben an diesem Abend, ein breites Bild der Argumente, Fakten und Meinungen. Beim Forstwesen gehe es nicht um Bäume, sagt am Ende der Förster Schockemöle, sondern um Menschen. Und in Höxter ging es im vergangenen Jahr zwar um einen Nationalpark. Es ging aber auch darum, dass ein demokratisches Gemeinwesen eine Frage von öffentlichem Interesse diskutieren und aushandeln kann, bisweilen emotional, am Ende sachlich. Egal, wie die Entscheidung ausfalle, sagt in seinem Schlusswort Landrat Stickeln, „danach müssen sich die einen ein bisschen schütteln, die anderen dürfen sich ein bisschen freuen – ohne Häme –, und dann setzen wir uns alle einen Tisch und setzen sie um“.

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