Kehrseite der Einigkeit

Dass das Vertrauen in das politische System schwindet und so viele Protestparteien wählen, liegt an den Krisen. Corona und der Ukraine-Krieg veränderten die Gesellschaft

Illustration: Katja Gendikova

Von Antje Lang-Lendorff

Es ist noch gar nicht so lange her, da gab es diesen Konsens: Demokratie ist super, unser politisches System der Teilhabe funktioniert, die Medien kontrollieren die Mächtigen. Inzwischen wird das von vielen in Frage gestellt. Verfassungsfeindliche Spinner gab es schon immer, aber so viele Zweifler*innen, von rechten Bauern bis hin zu linken Ökos, das ist neu. Wie groß die Entfremdung ist, hat auch die Europawahl gezeigt: Für Union, SPD, Grüne, FDP und Linkspartei stimmten bundesweit nur knapp 64 Prozent. Zehn Jahre zuvor waren es noch 84 Prozent. Die AfD profitiert von dieser Schwäche, ebenso das Bündnis Sahra Wagenknecht – und bei den jungen Wäh­le­r*in­nen die Partei Volt.

Die Erklärungsversuche, warum sich so viele Menschen vom politischen Betrieb abwenden, wirken häufig hilflos. Es wird dann auf die Fehler der Ampel verwiesen, auf das vergurkte Heizungsgesetz und das Gezeter innerhalb der Koalition. Auf Olaf Scholz, der zu wenig spricht.

Da ist sicher was dran, es reicht als Erklärung aber nicht aus. Die Ursachen der Entfremdung liegen tiefer. Es sind die Krisenerfahrungen der letzten zehn Jahre, die die Gesellschaft verändert haben. Sie haben eine psychologische Dynamik ausgelöst, die das entstandene Misstrauen gegenüber den Parteien und den Medien zu guten Teilen erklärt – und auch die Vehemenz, mit der dieses Misstrauen artikuliert wird.

Was genau passiert in einer Krise? Der israelische Psychologe und Gruppenanalytiker Robi Friedman hat sich lange damit beschäftigt, wie Krieg eine Gesellschaft verändert. Nun ist Deutschland nicht im Krieg. Trotzdem sind seine Überlegungen auch für uns interessant, Friedmans Modell lässt sich auf alle Formen existenzieller Bedrohungen anwenden. Die gesellschaftlichen Auswirkungen sind vergleichbar, wenn auch weniger stark ausgeprägt. Krieg ist in diesem Sinne die krasseste Form der Krise und legt die Dynamiken besonders deutlich offen.

Friedman sagt, dass eine existenzielle Bedrohungslage das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft grundlegend verändert. Es komme zu einer „weitgehenden Unterordnung der Individuen unter die Ziele und Interessen des Kollektivs“. Man kennt das als „Rally-’round-the-Flag“-Effekt: Die Menschen rücken zusammen, sie versammeln sich um die eigene Flagge. Das gibt nicht nur der jeweiligen Regierung Rückhalt, es führt auch zu einer großen Solidarität untereinander, schreibt Friedman. Man hilft sich, wo man kann.

Die Kehrseite dieser Einigkeit ist ein Zwang zur Konformität. „Die Menschen glauben, mit einer Stimme sprechen zu müssen“, sagt Friedman. Wer das erklärte Ziel in Frage stellt oder die eigenen Leute kritisiert, wird als Ver­rä­te­r*in ausgegrenzt. Darunter leidet auch die Meinungsvielfalt. Fühlen sich die Menschen existenziell bedroht, gibt es weniger Raum für Differenzen oder gar für Empathie mit dem Feind. Die Welt wird in Gut und Böse eingeteilt, die Abwehr der Bedrohung hat Priorität. Mit einer liberalen, offenen Gesellschaft vertrage sich so ein Denken nicht gut, sagt Friedman. „Die liberale Gesellschaft funktioniert nur ohne Angst.“

Mit Friedmans Konzept im Hinterkopf lässt sich besser verstehen, wie die Krisen der vergangenen Jahre die deutsche Gesellschaft geprägt haben. Schon 2015 konnte man einige der von Friedman beschriebenen Effekte beobachten. Die Zuwanderung von Flüchtlingen setzte Energien frei, es gab eine große Welle der Solidarität. Sehr viele erlebten die Ereignisse nicht als Krise, andere schon. Sie fühlten sich offenbar bedroht. Das gab der AfD Auftrieb, die Merkels Asylpolitik deutlich kritisierte.

Noch besser lässt sich Friedmans Modell auf die Pandemie anwenden. Ähnlich wie ein Krieg stellte Corona eine konkrete Bedrohung dar, viele hatten gerade zu Beginn große Angst. Um Schlimmeres zu verhindern, griff die Regierung durch: Ausgangssperren, Schulschließungen, Kontaktverbot – die Menschen mussten sich dem Interesse des Kollektivs unterordnen und starke Einschränkungen hinnehmen, die Abwehr des Virus hatte Priorität. Auch während Corona gab es eine große Solidarität. Nachbarn kauften füreinander ein, Ärzte meldeten sich freiwillig für Impfzentren. Um vulnerable Gruppen zu schützen, verzichteten viele auf persönliche Treffen. Die Menschen rückten, wenn auch kontaktlos, zusammen.

Mit dieser Einigkeit ging, wie von Friedman beschrieben, auch ein sozialer Druck einher. Wer Maßnahmen oder die Impfung ablehnte, wurde zur Außenseiter*in. Manche verglichen sich mit Widerstandskämpfern, was maßlos übertrieben ist. Niemand musste um sein Leben fürchten, alle konnten, rechtlich gesehen, immer ihre Meinung sagen. Eine soziale Ächtung gab es aber schon.

Davon waren mehr betroffen, als man vielleicht denkt. Zu Beginn der Pandemie äußerte ein Fünftel der Deutschen großes oder sehr großes Verständnis für die Coronaproteste, gegen Ende sogar jeder Vierte. Das zeigen repräsentative Zahlen des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Dabei handelte es sich nicht um eine homogene Gruppe. Die Proteste gegen die Coronamaßnahmen fanden nicht nur am rechten Rand Zustimmung, sondern auch in der politischen Mitte, schreiben die Wissenschaftler*innen.

Foto: Uta Keck

leitet das Gesellschafts­team der wochentaz. Im Frühjahr war sie als Gast-Journalistin am WZB, wo sie zum Thema Krisen recherchierte.

Die etablierten Parteien standen hinter der Coronapolitik der Regierung, angesichts der Bedrohung waren auch sie zusammengerückt. Nur die AfD wetterte von Beginn an gegen Maßnahmen, gegen Impfungen, ebenso wie einzelne Abgeordnete, etwa Sahra Wagenknecht. Im Laufe der Pandemie kritisierte auch die FDP die Einschränkungen immer mehr. Für jene 20 bis 25 Prozent, die die Coronapolitik schwierig fanden, hieß das: Sie wurden kaum repräsentiert. Wer sich in der politischen Mitte verortete und die AfD ablehnte, war politisch weitgehend heimatlos.

Auch die Meinungsvielfalt litt in der Pandemie. Obwohl ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung die Maßnahmen kritisch sah, kamen Co­ro­na­skep­ti­ke­r*in­nen in der Berichterstattung kaum vor, zeigt eine Studie, in der die Beiträge großer Medien zwischen Januar 2020 und April 2021 ausgewertet wurden. Und wenn sie denn vorkamen, wurden sie praktisch durchgängig negativ bewertet. Die Jour­na­lis­t*in­nen waren insgesamt noch mehr auf Vorsicht aus als die Regierung, zeigt die Studie. „Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wurden in den meisten Medien als angemessen oder sogar als nicht weitreichend genug bewertet“, so das Fazit der Wissenschaftler.

Man kann das richtig finden. Auch Jour­na­lis­t*in­nen fühlten sich dem Ziel verpflichtet, das Virus zu bekämpfen. Gut möglich, dass sich Menschen auch wegen der Berichterstattung streng an die Maßnahmen hielten und so mehr Ansteckungen verhindert wurden. Ein Ergebnis war aber auch, dass sich ein Viertel bis ein Fünftel der Bevölkerung mit der eigenen Position weder bei den großen Parteien noch in den Medien wiederfand.

Es folgte der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022. Die Angst ging um, dass es auch bei uns Krieg geben könnte. Die Menschen rückten wieder zusammen: Die Solidarität mit der Ukraine war riesig, viele nahmen Geflüchtete sogar in ihren Wohnungen auf. Auch politisch war die Einigkeit groß. Dass die Ukraine mit Waffen unterstützt werden müsse, diese Ansicht vertraten bald – mit Ausnahme einzelner Abgeordneter – alle demokratischen Parteien. Und auch ein Großteil der Journalist*innen: Eine Studie zur Berichterstattung in den ersten drei Monaten des Krieges kommt zu dem Schluss: Die „meisten deutschen Leitmedien haben überwiegend für die Lieferung schwerer Waffen plädiert“. Laut einer ARD-Umfrage waren die Deutschen bei dieser Frage allerdings gespalten. Im April sprachen sich 45 Prozent gegen die Lieferung schwerer Waffen aus – auch hier hat sich also eine Lücke aufgetan. Fast die Hälfte der Bevölkerung sah die eigene Meinung weder bei den großen Parteien noch in der Berichterstattung repräsentiert.

Fühlen sich die Menschen bedroht, gibt es weniger Raum für Differenzen. Die Welt wird in Gut und Böse eingeteilt, die Abwehr der Bedrohung hat Priorität

Vor diesem Hintergrund versteht man eher, dass bei mehr Menschen der Eindruck entstand, „die da oben stecken alle unter einer Decke“. Dass sie anfälliger sind für Verschwörungserzählungen. Dass nur noch 40 Prozent das Gefühl haben, man könne in Deutschland seine politische Meinung frei äußern. Vor zehn Jahren glaubten das noch 69 Prozent.

Krisen wie Corona und der Ukraine-Krieg setzen Kräfte frei, die die Gesellschaft verändern, im Guten und im Schlechten. Sie entfalten eine eigene psychologische Dynamik. Die Einigkeit, die sie mit sich bringen, hilft bei der Bewältigung der Krise. Sie führt aber auch zu einem Verlust von Vielstimmigkeit – und damit bei jenen, die sich nicht repräsentiert sehen, zu einem Verlust von Vertrauen. Mit Friedman könnte man sagen: Krisen bekommen der offenen liberalen Gesellschaft nicht besonders gut. Und da haben wir über die Klimakrise und den Krieg im Nahen Osten noch gar nicht gesprochen.

Der AfD nutzt das, genau wie Sahra Wagenknecht. Sie machte sich zum Sprachrohr all jener, die sich in den Krisen politisch nicht vertreten sahen. Sie machte Stimmung gegen Geflüchtete. Sie setzte sich während Corona als Ungeimpfte in Szene und kritisierte die Maßnahmen. Sie ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Damit stößt Wagenknecht in die Repräsentationslücke – mit Erfolg. So wenig einem diese Entwicklung gefallen mag, zeigt sie doch: Die viel gescholtene Demokratie funktioniert. Wenn zu „denen da oben“ vermehrt auch Ver­tre­te­r*in­nen der Protestparteien gehören, läuft die Establishment-Schelte irgendwann ins Leere. Genau das könnte ihnen den Wind wieder aus den Segeln nehmen.