In Niedersachsen wächst Judenhass

Der Rias-Jahresbericht 2023 verzeichnet – wenig überraschend – eine wachsende Zahl antisemitischer Vorfälle. Dass es insbesondere Universitäten betrifft, hat eine lange Tradition

Ein Fall für den nächsten Jahresbericht: Brand­anschlag auf die Oldenburger Synagoge im vergangenen April Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa

Von Nadine Conti

Es ist auf traurige Art und Weise überhaupt nicht überraschend, was die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Niedersachsen in ihrem Jahresbericht 2023 zu verkünden hat. „Natürlich“ hat es im vergangenen Jahr erneut einen massiven Anstieg von antisemitischen Vorfällen gegeben, 331 dokumentierte die Rias. Das sind 60 Prozent mehr als im Vorjahr. 153 davon in den letzten drei Monaten des Jahres, nach dem 7. Oktober, nach dem Terrorangriff der Hamas.

Was allerdings erst durch die mühsame Erfassungs- und Analysearbeit der Rias deutlich wird, sind zwei Erkenntnisse: Wie grauenhaft alltäglich antisemitische Anwürfe für Jüdinnen und Juden in Deutschland schon wieder sind. Und wie austauschbar der Anlass ist, die „Gelegenheitsstruktur“, wie es im Rias-Bericht heißt, um umstandslos uralte antisemitische Motive zu reaktivieren und zu aktualisieren: Gestern waren das noch die Pandemie oder der Ukraine-Krieg, heute eben Gaza.

Da ist die Frau, die auf einer Rolltreppe im Einkaufszentrum unversehens von zwei anderen Frauen angerempelt wird – weil die einen Blick auf den Sperrbildschirm ihres Handys geworfen haben, der hebräische Buchstaben und eine israelische Flagge zeigte. Da sind die dummen Sprüche im Supermarkt oder am Kiosk, wenn der Davidsstern an der Halskette sichtbar wird. Da sind Dutzende Vorfälle in Bildungseinrichtungen von der Kita über die Schule bis zur Universität.

„Das sind Situationen, denen ich nicht ausweichen kann“, sagt Katarzyna Miszkiel-Deppe, Leiterin der Rias Niedersachsen. In einem Restaurant oder Theater könne man ja vielleicht aufstehen, gehen und nie wieder kommen, in der Schule nicht.

Wie schwer erträglich die Situation vor allem an Universitäten geworden ist, macht auch Rebecca Seidler deutlich. Die Geschäftsführerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover und Vorsitzende des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden Niedersachsen schildert in ihrem Grußwort, wie sie von einer pro-palästinensischen Studentengruppe ins Visier genommen wurde. In sozialen Medien wurde ihr Foto verbreitet wie ein Steckbrief, auf dem Campus wird die jüdische Dozentin seither vom Sicherheitsdienst begleitet. Auch der Verband Jüdischer Studierender Nord beklagt, dass sich viele jüdische Studierende nicht mehr frei auf dem Campus bewegen können, sich unsichtbar machen müssen, um sicher zu sein.

Das, macht Susanne Urban in ihrem Gastvortrag „Nicht nur die documenta fifteen – Antisemitismus in Kunst und Kultur“ deutlich, hat eine lange Tradition. „Judenhass“ war nie nur ein Phänomen der dumpfen Massen, sondern unter Kulturschaffenden und Akademikern weit verbreitet.

Der hakennasige, mit bluttriefenden Vampirzähnen ausgestattete teuflische Weltherrscher, der schweineköpfige israelische Soldat mit SS-Insignien – wer hinsieht, findet diese Motive überall wieder. In den Verschwörungserzählungen der Reichsbürger oder Coronaleugner genauso wie in der vordergründigen Kapitalismus-/Imperialismus-/Kolonialismuskritik auf Seiten der Linken. In der Negierung und Relativierung des Holocaust (Israelis als die schlimmeren Nazis) treffen sich Islamisten und Rechte, in der Schlussstrich-Sehnsucht Rechte („Schuldkult“) und Linke („free palestine from german guilt“).

Und auch der „Kindermörder“-Vorwurf, das macht Helge Regner bei der Vorstellung des Jahresberichts deutlich, bezieht sich zwar vordergründig auf die zivilen Opfer in Gaza – knüpft untergründig aber an die Bilder an vom Kinder klauenden, Kinderblut trinkenden Juden, den Mörder des Jesuskindes, des Gottessohnes, mit dem schon seit Jahrhunderten Pogrome gerechtfertigt werden.

Es ist eben auch dieses permanente Déjà-vu, das die Vorfälle so schwer erträglich macht. Auch wenn die, einzeln betrachtet, oft unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit liegen. Hier unterscheidet sich die Statistik der Rias von der polizeilichen Statistik der politisch motivierten Kriminalität. Als zivilgesellschaftliche Einrichtung erfasst und kategorisiert Rias streng aus der Perspektive und in Rücksprache mit Betroffenen, Einzelpersonen wie Institutionen. Und zählt dabei auch das, was hier als „verletzendes Verhalten“ kategorisiert wird, Aussagen, Plakate, Aufkleber oder Internet-Posts, die gerade noch von der Meinungsfreiheit gedeckt sind.

Erklärtes Ziel ist es, daraus gezielte Präventions- und Schutzmaßnahmen ableiten zu können. Der dritte Jahresbericht der Einrichtung bleibt allerdings in mancher Hinsicht sehr abstrakt und schwer nachvollziehbar. Es werden nur wenige Beispiele näher geschildert, vor allem bei den Fällen von extremer Gewalt (1) und körperlicher Angriffe (11) hält man sich zurück.