100. Todestag Franz Kafka: Wer hat Angst vor Kafka?

Einspruch gegen die Welt erheben, ohne direkten Einspruch zu erheben, geht das denn? Über Franz Kafkas Werk wurde viel gestritten.

60er jahre, Schwarz-Weiß-Bild Autoren konferieren

1963 in Liblice: Kafka-Konferenz mit Folgen Foto: Jiri Finda/CTK/imago

Viel wurde gestritten über den Aspekt der Entfremdung bei Kafka. Angesichts des stets wiederkehrenden, undurchdringlichen Systems der Macht und der Nichtmöglichkeit von Kommunikation in Kafkas Werk drängte sich den Interpreten die Kategorie Entfremdung förmlich auf. Jedoch waren es, wie man wohl annehmen würde, nicht unbedingt die marxistischen Literaturkritiker und -theoretiker, die Kafka verehrten.

Im Gegenteil. Wie auch den späteren Existenzialisten warfen ihm viele übersteigerten Subjektivismus, Nihilismus und gar Ästhetizismus vor.

Klar, Kafkas Protagonisten werden nicht im kapitalistischen Produktionsprozess mit Entfremdung geschlagen, und um die Erkenntnis einer objektiven Wirklichkeit geht es bei ihm schon gar nicht. Mit dem klassischen Realismus in der Literatur hatte dieser Autor der literarischen Moderne ganz offenbar gebrochen. Die Kafka’sche Avantgarde galt vielen als ­dekadent, was heute fast vergessen ist.

Gleich ob bürgerliche oder materialistische Literatur­theorie, suspekt war ihnen gleichermaßen die affizierende, gar ätzende Wirkung von Kafkas Allegorien mit ihren hermetischen Welten, die kein Raum-Zeit-Kontinuum mehr kennen.

Einspruch gegen Instrumentalisierung

Anders Theodor W. Adorno. Er verehrte Kafka, gerade weil er bei Kafka keine „Nachäffung der Realität, sondern deren Rätselbild, zusammengefügt aus ihren Bruchstücken“ vorfand. „In ihren Monologen hallt die Stunde, die der Welt geschlagen hat: darum erregen sie so viel mehr, als was mitteilsam die Welt schildert“, schrieb Adorno über Kafka, Joyce und Beckett.

„Aber die Funktion der Kunst in der gänzlich funktionalen Welt ist ihre Funktionslosigkeit; purer Aberglaube, sie vermöchte direkt einzugreifen oder zum Eingriff zu veranlassen“, heißt es in Adornos „Ästhetischer Theorie“ gegen jede Form der engagierten oder realistischen Kunst gerichtet, weil: „Instrumentalisierung von Kunst sabotiert ihren Einspruch gegen Instrumentalisierung.“ Für Adorno war auch das eine Lehre, die aus der Katastrophe, der Schoah, gezogen werden musste.

Von Kafkas Einspruch gegen die verwaltete Welt, der eben genau kein direkter Einspruch im Sinne eines Abbilds jener schlechten wahren Welt ist und dem schon gar nicht an Bewusstmachung gelegen ist, konnten sich auch die Realsozialisten gemeint fühlen. Was sie auch taten.

Das Verdikt der Realsozialisten gegen Kafka ging vor allem auf den Marxisten Georg Lukács und seinen programmatischen Aufsatz „Franz Kafka oder Thomas Mann“ zurück. Lukács wähnte sich vor die Alternative „interessante Dekadenz oder lebenswahrer kritischer Realismus?“ gestellt und plädierte dogmatisch für Zweiteres.

Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Kafka der Autor ist, der am Anfang einer Öffnung der Ostblockstaaten steht: 1963, auf der Kafka-Konferenz in Liblice bei Prag, diskutierte man, so die Überlieferung, erstmals öffentlich Entfremdung in Bezug auf den realen Sozialismus. Vielen gilt diese Konferenz als Initiator des Prager Frühlings 1968.

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