Kommentar von Tobias Müller zur Europawahl in den Niederlanden: Holland in der EU-Frage gespalten
So manche internationale Beobachter*innen werden am Donnerstagabend erleichtert aufgeatmet haben: Laut Befragungen nach der Wahl, die in der Regel ein recht zuverlässiges Bild des späteren Ergebnisses zeigen, liegt das rot-grüne Wahlbündnis in den Niederlanden knapp vor der rechtspopulistischen PVV. Bilder jubelnder Sozialdemokratinnen und Grüner vermittelten einen Hauch von Normalität, vielleicht gar einen Hoffnungsschimmer angesichts der jüngsten Entwicklungen rund um die neue rechte Koalition dort.
Beide Ergebnisse gilt es jedoch zu relativieren: Das rot-grüne Lager verzeichnet eigentlich leichte Verluste, was perspektivisch nun zum wiederholten Mal deutlich macht, dass die gebündelten Kräfte der Linken zwar ausreichen, um gemeinsam überhaupt die Chance auf einen Wahlsieg zu haben. Von einem nennenswerten Effekt, der darüber hinausreicht, ist man aber weit entfernt. Sprich, in einem konservativ-rechts dominierten Spektrum ist für das progressive Bündnis offenbar nicht mehr zu holen.
Aufseiten der PVV ist anzumerken, dass mehr als die Hälfte derjenigen, die sie im November wählten, zu Hause blieben. Weil ihnen Europa egal ist, weil sie die EU ablehnen oder „Brüssel“ als Zumutung empfinden. Dass die Partei dennoch sechs Sitze hinzugewonnen hat, zeugt davon, dass der Aufstieg der PVV Substanz hat. Nicht nur in den Niederlanden ist der identitären Rechten weniger an punktuellen Wahlerfolgen gelegen als daran, den gesellschaftlichen Diskurs nachhaltig zu verändern.
Wie weit dieser Prozess fortgeschritten ist, zeigt die PVV-geführte Regierung, die in Den Haag in den Startlöchern sitzt. Man sieht es aber auch an der Frage, die sich unmittelbar nach den EU-Wahlen mit aller Dringlichkeit stellen wird: Wie wird die EVP, die größte Fraktion im Europaparlament, mit den konservativ bis rechtsextremen Parteien umgehen? Eine Annäherung war schon in den letzten Monaten zu beobachten, als Giorgia Meloni Hand in Hand mit Ursula von der Leyen Deals zur Migrationsabwehr einfädelte.
Was die Niederlande betrifft, unterstreicht der Kampf zwischen Rot-Grün und PVV unabhängig vom Ergebnis eine Zweiteilung: Auf der einen Seite stehen die Progressiven, die sich im Wahlkampf überdeutlich als EU-freundlich in Stellung brachten. Sie führen die Reste jenes Spektrums an, durch das die Niederlande vor langer Zeit als Europas Musterschülerin galten. Ihr gegenüber befindet sich ein wachsendes Potenzial EU-skeptischer Kräfte in verschiedenen Schattierungen. So flach das Land, so tief der Graben zwischen beiden Lagern. Die Wahlergebnisse in den übrigen Mitgliedstaaten könnten diesen Befund in den nächsten Tagen bestätigen.
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