Fotograf Michael Ruetz: Das Unsichtbare erfassen

Die Akademie der Künste in Berlin stellt die „Poesie der Zeit“ des Fotografen Michael Ruetz vor. Darin hat er die unsichtbare Macht eingefangen.

Blick auf den Palast der Republick

Michael Ruetz aus: „Time­scape 312“, 312.10 October 26 2002 14:48 h, Schloßplatz, Berlin-Mitte Foto: Michael Ruetz

Die letzte Aufnahme der „Time­scapes“ wurde am Montag, den 28. August 2023 um 10.33 Uhr am Aufnahmeort N 52°31.010' E 13° 22.779' gemacht. Die Kamera blickte in Richtung SW 208°, sie fokussierte auf das Brandenburger Tor. „Timescape“ ist ein von Michael Ruetz in Anlehnung an die Landscape geprägtes Kunstwort und bezeichnet eine über viele Jahre entstandene Folge von Fotografien, die immer am selben Ort das gleiche Motiv zeigen, das sich im Lauf der Zeit allerdings auch verändern oder ganz verschwinden kann.

Gleich bleiben neben dem Standort und der Blickachse die Optik der Kamera, die Aufnahme in Schwarz-Weiß und parallel dazu in Farbe. Flexibel sind dagegen die zeitlichen Abstände, in denen Michael Ruetz einen Ort immer wieder aufsucht.

Das Brandenburger Tor ist Teil der Serie „Timescape 162, Pariser Platz, Berlin-Mitte, 1991–2023“, die jetzt in der Ausstellung „Poesie der Zeit“ in der Akademie der Künste eben am Pariser Platz zu sehen ist. Die erste Aufnahme der leeren Mitte Berlins entstand am 4. Februar 1991 um 17.30 Uhr, als es bereits dunkel war. Die zweite Aufnahme, fünf Jahre später am 1. Februar 1996 um 13.10 Uhr, zeigt bildfüllend zwei hölzerne Kabeltrommeln, die den Blick auf das Wahrzeichen versperren, von dem nur noch die Quadriga zwischen den Trommeln hervorragt. Zwei Jahre später, am 15. April 1997 um 12.44 Uhr, ist die leere Mitte ein großer Bauplatz geworden.

Die Ahnung eines städtischen Platzes vermittelt dann das Foto vom 13. April 2002 um 11.08 Uhr. Das Tor hat inzwischen wieder seine beiden Torbauten und am linken Bildrand ist bereits die Bastion der amerikanischen Botschaft zu sehen. 2007, 26. Juli um 13.46 Uhr: Jetzt kann man vom Pariser Platz sprechen. 16 Jahre später, bei der letzten Aufnahme, sieht der Platz – wie könnte es in Berlin auch anders sein – wieder nach Baustelle aus.

Beobachtung der Veränderung

Die Fotografie, sagt Michael Ruetz, „ist eine perfekte Methode, wenn nicht die einzige, nicht nur das Sichtbare zu erfassen, sondern zugleich das Unsichtbare: die Zeit“. Das scheint ihm schon von Anfang an bewusst gewesen zu sein. Denn schon Ende der sechziger Jahre, als der Doktorand im Fach Sinologie seine Aufnahmen von den Studentenprotesten an Spiegel, Stern, Time Magazine, Life und Paris Match verkaufen konnte und so in eine große Fotografenkarriere abbog, legte er zu den belichteten Filmen Archivkarten mit Filmnummer, Anlass, Ort und Datum an.

„Poesie der Zeit“. Michael Ruetz, Timescapes 1966–2023. Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin, bis 14. August

Auf dieser Grundlage entstand das fotografische Langzeitprojekt, in dem Ruetz an 360 Orten in Deutschland und Europa den Wandel ländlicher und städtischer Lebenswelten auf die beschriebene Weise festhielt. Jetzt abgeschlossen, werden die Timescapes Teil des Michael-Ruetz-Archivs an der Akademie der Künste.

Inzwischen füllt allein die Dokumentation viele Regalmeter, wie der dritte Raum der klug konzipierten Ausstellung zeigt, in dem neben dem Koda­chrome- und Negativarchiv auch Arbeitsprotokolle, Lagepläne, Tagebücher und Buchpublikationen sowie die Kameras, mit denen der Künstler gearbeitet hat, ausgebreitet sind. Eingeleitet durch ein Video, in dem man Michael Ruetz bei der Arbeit zuschauen kann, stehen Ruetz’ Berliner Zeitlandschaften im Mittelpunkt der Ausstellung, die mit der Projektion der Timescape 817, „Die absolute Landschaft“, endet. 23 Jahre lang überblickte Ruetz im Chiemgau die von Bergen gesäumte Landschaft eines ausgedehnten Tals und dokumentierte diese Sicht in 2.720 Aufnahmen.

Blick auf das Betonskelett des Humboldtforums

Michael Ruetz aus: „Time­scape 312“, 312.26 December 17 2015 10:06 h, Schloßplatz, Berlin-Mitte Foto: Michael Ruetz

Orte der Macht

In Berlin sind es vor allem die ehemaligen Orte der Macht und des städtischen Prestiges wie das Regierungsviertel, der Pariser Platz, der Gendarmenmarkt oder die Straße Unter den Linden, die nach dem Fall der Mauer eine rasante Umgestaltung durchlaufen. In diesem Umbau der Stadt lassen sich, so der Katalogtext, „die Transformationen und tiefgreifenden Wandlungen der deutschen Geschichte und Gesellschaft aufschlussreich ablesen“.

Was aber bedeutet es dann, wenn im Timescape 312 aus dem Marx-Engels-Platz der Schloßplatz wird und der Palast der Republik samt Weihnachtsrummel dem Beton des im Wiederaufbau befindlichen Schlosses weicht? Wenn am Ende „ein neues Berlin in den ästhetischen Grenzen von 1900 entsteht“, wie es kürzlich so schön in der FAS hieß? Soll das, genauso wie der absolute Leerstand der als Luxusmeile konzipierten Friedrichstraße, wirklich als Zustandsbericht zur gesellschaftlichen Lage Deutschlands gelesen werden?

Oder soll man darin nicht eher die Hinterlassenschaften einer ebenso benenn- wie überschaubaren Gruppe von Politikern und sogenannten Deve­lopern, also Geschäftemachern, ideologischen Geschichtsrevisionisten, Architekten und Immobilienheinzen erkennen, der man viel entschiedener hätte entgegentreten müssen?

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