Die Kluft zwischen den Lebenswelten

Ursula K. Le Guin galt zeitlebens als Grand Old Lady der US-amerikanischen Science-Fiction. Ihr Opus magnum „Immer nach Hause“ über die Lebensweise des fiktiven Volkes der Kesh, das bereits 1985 im englischsprachigen Original erschien, liegt jetzt endlich in deutscher Übersetzung vor

Grand Old Lady von Fantasy und Feminismus: Ursula Le Guin, 19. 8. 1975 Foto: John Berry/Fairfax Media/getty images

Von Katharina Granzin

Es hat fast vierzig Jahre gedauert, bis „Always Coming Home“, das Buch, das mit guten Gründen als Hauptwerk der 2018 verstorbenen Ursula K. Le Guin betrachtet werden kann, ins Deutsche übersetzt wurde. Le Guin, die zeitlebens als Grand Old Lady der US-amerikanischen Science-Fiction oder auch Fantasy galt, passte in Wirklichkeit in keine Schublade. Sicherlich war es „speculative fiction“, was sie schrieb, und in der Regel spielen ihre Stoffe in einer ziemlich fernen Zukunft; doch geht es bei Le Guin nicht um fantasievolle neue Technologien und im Grunde wohl nicht einmal um die Zukunft selbst, die letztlich eher als Metapher dient.

Le Guins alternative Welten handeln von den grundlegenden Prinzipien menschlichen Zusammenlebens; und genau darin umkreist „Immer nach Hause“, so nun also der deutsche Titel, sehr facettenreich das Kerngeschäft der Autorin.

Inspiriert von der ethnografischen Arbeit ihrer Eltern, insbesondere ihres Vaters Alfred Louis Kroeber, der als Professor für Anthropologie in Berke­ley lehrte und forschte, beschreibt Le Guin in ihrem Opus magnum ein Volk, das zu unbestimmter Zeit in der Zukunft in Nordkalifornien „gelebt haben werden könnte“, wie es in der gelungenen deutschen Übersetzung heißt.

Die literarischen Mittel, die sie dafür wählt, sind ausgesprochen vielgestaltig. Prosa, Lyrik, Drama, alle literarischen Gattungen sind vertreten, denn die Autorin präsentiert ihre Erzählung vom fiktiven Volk der Kesh eben nicht als Erzählung über dieses Volk, sondern lässt dieses Volk selbst sprechen – in seinen Gedichten und Liedern, Dramen und Legenden.

Nur ein verhältnismäßig winziger Teil des Buches, das viel zu experimentell ist, um „Roman“ genannt zu werden, ist aus der Perspektive einer externen Beobachterin geschrieben, einer Figur namens Pandora, die möglicherweise eine Zeitgenossin von uns sein – oder gewesen sein – könnte. Pandora aber bringt ihre eigene Geschichte nicht mit ein, anders als die wichtigste andere Figur im Buch, die sich „Erzählstein“ nennt. Erzählstein hat nicht immer so geheißen, das sei ihr Letztname, erklärt sie uns, und so erfahren wir fast als Erstes über die Kesh, dass die Angehörigen dieses Volkes im Laufe ihres Daseins ihre Namen an veränderte Lebenssituationen anzupassen pflegen. Erzählstein heißt so, weil sie nunmehr in einem Alter ist, in dem sie auf ihr Leben zurückblicken und davon erzählen kann.

Drei Teile dieser Lebenserzählung sind im Buch enthalten, vom behüteten Aufwachsen des kleinen Mädchens im Tal der Kesh in der Obhut von Mutter und Großmutter über ihr Erwachsenwerden in der kriegerisch organisierten, materialistischen Welt ihres Vaters, in der Frauen als Eigentum von Männern betrachtet werden, bis hin zu ihrer Rückkehr ins Tal, wo sie ihr altes Leben in gleichberechtigter Gemeinschaft und in arbeitsreicher, aber naturverbundener Subsistenzwirtschaft zufrieden wieder aufnimmt. Die Kluft zwischen der Lebensweise der Kesh und der in kalten Regeln erstarrten Welt der Dayao, in der Erzählsteins Vater ein großer Heerführer ist, spiegelt zweifellos den ganz realen Gegensatz zwischen den Lebenswelten der Native Americans, die Le Guins Eltern erforschten und dokumentierten, und jenen der europäischstämmigen Kolonisierer.

Die Technologie, auf die sich die fiktive Welt in „Immer nach Hause“ bezieht, mag weiter vorangeschritten sein, doch die kulturellen Gegensätze darin sind alles andere als neu. Und weil wir die Welt der Dayao aus eigenem Erleben kennen, versammelt die Autorin ausschließlich die fiktiven kulturellen Zeugnisse jenes anderen Volkes, dessen Lebensweise so alt ist und so lange erfolgreich war, dass sie dereinst, wenn die Welt, die wir kennen, längst zerstört worden sein wird, vielleicht wieder erfolgreich werden kann.

Tatsächlich dichtete Ursula K. Le Guin Liedtexte in der Sprache des fiktiven Volkes der Kesh, die man sich sogar im Internet anhören kann

Gemäß Ursula K. Le Guins eigener Tragetaschentheorie des Erzählens (taz v. 11. 2. 2021), die im Anhang des Buches ebenfalls enthalten ist, ist es möglich, dieses dicke Buch so zu lesen, wie auch immer es passt. Mal hier eine Erzählung, dort ein Gedicht, dann einen Teil von Erzählsteins Leben und den nächsten, um dann irgendwohin zurückzublättern und zu versuchen, sich vorzustellen, wie man diese Kesh-Dramen wohl in Szene setzen könnte – oder wie wohl ihre Sprache klingt.

Tatsächlich dichtete Le Guin Liedtexte in Kesh-Sprache, die man sich sogar im Internet anhören kann. Der Komponist Todd Barton war so fasziniert von den eigentümlichen Musikinstrumenten der Kesh, dass er einen umfassenden Soundtrack zum Buch komponierte. Wie jedes andere Buch auch aber kann es natürlich einfach von vorne nach hinten gelesen werden.

Ursula K. Le Guin: „Immer nach Hause“. Aus dem Englischen von Matthias Fersterer, Karen Nölle und Helmut W. Pesch. Carcosa Verlag, Wittenberge 2023, 859 Seiten, 48 Euro