Europawahlen ab 16: Jung, europäisch, planlos

Am Sonntag dürfen erstmals auch 16- und 17-Jährige wählen. Ist das ein Chance für die Demokratie? Und was sagen junge Menschen dazu?

Eine Hand wirft einen Wahlschein in eine Urne.

In mehreren Ländern Europas darf ab 16 Jahren gewählt werden, in Belgien und Luxemburg sogar mit Wahlpflicht Foto: Hannes Jung/laif

COTTBUS/BERLIN taz | Am sandigen Spreeufer in Cottbus sitzt eine Gruppe von sieben Jugendlichen und raucht. Hier treffen sie sich regelmäßig donnerstags, um sich im Rahmen eines offenen Treffs auszutauschen. Sie sind 18 bis 21 Jahre alt. In diesem Text wollen sie nur mit Vornamen vorkommen. Politik spielt sich für sie vor allem im unmittelbaren Umfeld ab. Kinder und Jugendliche sollten einen Ort für sich haben, für den sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können, sagt etwa der 19-jährige Essi.

Barbara Becker, Lehrerin für Biologie und Geschichte

„Ab 16 ist man alt genug, sein Leben in die Hand zu nehmen. Deshalb sollte es auch möglich sein, eine politische Entscheidung zu treffen“

Mit einem selbstverwalteten Jugendclub soll so ein Ort entstehen. Dafür setzt er sich ein. Er selbst habe sich noch nicht politisiert. Damit meint er, im Sinne einer Partei. Klar ist für ihn und die anderen Jugendlichen nur, dass sie die Alternative für Deutschland scheiße finden. Die meisten in der Gruppe gehen am Sonntag zum ersten Mal wählen. Gleich auf zwei Wahlzetteln dürfen sie ihre Kreuze setzen, für Europa und für die Kommunalwahlen in Brandenburg.

Die Gruppe der Erst­wäh­le­r*in­nen war noch nie so groß wie dieses Jahr zur Europawahl. Über vier Millionen sind es insgesamt. Grund dafür ist, dass zum ersten Mal bundesweit 16- und 17-Jährige ihre Stimme für Europa abgeben dürfen. Die zwei Jahrgänge machen 1,4 Millionen Wahlberechtigte aus. Die einen sehen das neu gewonnene Wahlrecht als Chance für junge Menschen, sich an der Demokratie zu beteiligen. Andere stellen ihre Reife infrage und haben Sorge vor dem Einfluss rechtsextremer Kräfte. Wer hat recht? Und was sagen junge Menschen dazu?

„In der Schule hatten wir nur eine Stunde Unterricht zu Europa“, sagt Arthur, der mit den anderen Jugendlichen am Spreeufer sitzt. Der 18-Jährige geht noch zur Schule, nächstes Jahr macht er sein Abitur. Viel über europäische Politik hätten sie im Unterricht nicht gelernt, erzählt er. Nur, dass ihr Lehrer kein Fan von linker Politik sei. Die anderen nicken zustimmend. Im Gespräch mit den Jugendlichen tauchen zwei Themen immer wieder auf: Sie wollen mehr Bildung und mehr Selbstwirksamkeit erfahren. Die Jugendlichen haben nicht das Gefühl, dass sie gut auf die Europawahlen vorbereitet wurden. Simple Fragen, wie „Wo gehe ich wählen?“ oder „Welche Partei steht für welches Programm?“, wurde ihnen im Unterricht nicht beantwortet.

Auch die Berliner Politikwissenschaftlerin Sabine Achour sieht die Schulen in der Pflicht, mehr auf die Interessen junger Menschen einzugehen. Sie beobachtet, dass der Unterricht insgesamt und oft auch vor einer Wahl vor allem aus Institutionenkunde besteht. Ein guter Unterricht aber müsse nah dran sein an den aktuellen politischen Debatten. „Das funktioniert natürlich nicht, wenn man nur Unterricht mit einem Schulbuch macht, das zehn Jahre alt ist“. Gleichzeitig betont Achour, dass bereits viele Lehrkräfte einen tollen Politikunterricht oder gute Angebote für politische Bildung machen.

Nicht genügend Politiklehrkräfte

Tatsächlich haben viele Bundesländer in den vergangenen Jahren die politische Bildung gestärkt. Eine regelmäßige Untersuchung der Universität Bielefeld zeigt jedoch, dass politische Bildung an deutschen Schulen immer noch schwächer vertreten ist, als Geschichte oder Geografie. Die Politikwissenschaftlerin Achour begrüßt, dass viele Landesregierungen die Leerstelle mittlerweile erkannt hätten und politische Bildung stärken. Andere Bundesländer hingegen hätten andere Prioritäten und stärkten stattdessen die affirmative Wirtschafts- oder die Finanzbildung. Außerdem bestünde häufig das Problem, dass die Schulen oft nicht genügend ausgebildete Politiklehrkräfte finden. Meistens übernähmen dann Ethik- oder Geschichtslehrer das Fach.

Dass es sich lohnt, in Leh­re­r*in­nen zu investieren, die Schü­le­r*in­nen für Demokratie begeistern, hat auch Barbara Becker gemerkt. Sie ist Lehrerin für Biologie und Geschichte am Windeck-Gymnasium Bühl in Baden-Württemberg. Zusammen mit Schü­le­r:in­nen hat sie Anfang Mai eine Demonstration für demokratische Werte in ihrer Stadt organisiert. „Nach der Demonstration haben mir Schü­le­r:in­nen erzählt, davor wären sie nicht wählen gegangen, jetzt schon. So ein Erweckungserlebnis braucht es.“

Dass junge Menschen jetzt ab 16 Jahren wählen können, sieht sie positiv: „Ab 16 ist man alt genug, sein Leben in die Hand zu nehmen, um nach einem mittleren Schulabschluss berufliche Entscheidungen zu treffen.“ Deshalb sollte es auch möglich sein, eine politische Entscheidung zu treffen. Das sieht die Bundesschülerkonferenz ähnlich: Anlässlich der Europawahlen fordert sie, das Wahlrecht ab 16 für alle Wahlen zu ermöglichen. In elf Bundesländern dürfen Jugendliche ab 16 bereits bei den Kommunalwahlen mitbestimmen. In sieben Bundesländern – darunter auch Brandenburg – gilt das auch für die Landtagswahlen.

Dadurch entsteht ein Flickenteppich, in dem 16- und 17-Jährige unterschiedliche demokratische Rechte in Deutschland haben. Der Politikberater Robert Vehrkamp sieht diesen kritisch. „Wie soll der Gesetzgeber begründen, dass ein Jugendlicher beispielsweise aus Brandenburg, der mit 16 bei Europa- und Landtagswahlen teilgenommen hat, mit knapp 18 bei der Bundestagswahl nicht wählen darf?“, fragt er. Das sei nicht nachvollziehbar und nehme Jugendlichen das Grundrecht auf demokratische Partizipation.

SPD-Dönerpreisbremse bei den U18-Wahlen

Teilhabe üben, konnten junge Menschen zumindest schon mal bei den U18-Wahlen, organisiert von dem Deutschen Bundesjugendring vor den Europawahlen. In allen Bundesländern gaben vom 27. bis zum 31. Mai insgesamt 60.000 Kinder und Jugendliche bei ehrenamtlich eingerichteten Wahlstationen ihre Stimme ab. Die meisten Stimmen gingen an die SPD, dicht gefolgt von der Union, beide lagen bei etwa 19 Prozent. Ähnlich gleichauf lagen die Grünen und AfD, sie erreichten um die 13,5 Prozent. Danach folgte die Linke, mit viel Abstand die Tierschutzpartei und die FDP. Insgesamt gingen etwa 18 Prozent an Kleinstparteien.

Dass die SPD so gut abschnitt, könnte mit ihrem Wahlkampf zusammenhängen. Sie setzte auf junge Themen und suchte das Gespräch mit jungen Menschen. Die Berliner SPD nahm bei 40 Schulen an Debatten teil. Und nachdem im Netz die Dönerpreisbremse getrendet war, nahm die Partei das Thema für sich auf. Kanzler Olaf Scholz beantwortete Fragen dazu auf Tiktok. Der Döner solle maximal 3 Euro kosten, forderte er. In Kooperation mit bestimmten Dönerläden organisierten sie Partei-Infostände, boten Döner zum entsprechenden Preis an und besprachen dazu das Thema Inflation. In der Vergangenheit war die Partei, genauso wie die CDU, besonders bei den älteren Jahrgängen stark.

Rechtsruck U18 – wirklich?

Große Unterschiede gab es bei den U18-Wahlen zwischen den ostdeutschen und westdeutschen Bundesländern. In Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern landete die AfD auf dem ersten Platz. In den vergangenen Monaten wurde immer wieder das Verhältnis von jungen Menschen zur AfD diskutiert. Es ging um die Videoplattform Tiktok und die AfD, die dort bislang die Nase vorn hat, im Kampf um die Gunst der Jüngeren. Aufsehen erregte die Jugendstudie von Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann, die einen Rechtsruck unter Jugendliche beobachtet mit AfD-Zustimmungswerten um die 22 Prozent.

Später erhielt die Studie scharfe Kritik. Zu wenig sei der Zeitpunkt der Befragung thematisiert wurden. Diese fand in Teilen noch statt, als die AfD bundesweit ihr Allzeithoch erreichte. Darüber hinaus hätten in der Jugendstudie 25 Prozent der Befragten angegeben, zwar wählen zu wollen, aber noch nicht zu wissen, wen, führt Vehrkamp als weiteren Kritikpunkt an. Sie waren in der Statistik zur Parteienpräferenz nicht mit eingeschlossen. Mit ihnen inkludiert, liegt die AfD nur bei 14 Prozent. Ein ähnliches Ergebnis wie bei der Gesamtbevölkerung: Bei der letzten Umfrage von Infratest Dimap Ende Mai lag die AfD bei 14 Prozent.

Die Angst vor einem Rechtsruck begleitet auch die Jugendlichen in Cottbus. Sie blicken besorgt auf dieses Jahr. Die Europawahlen sind für sie mit Blick auf kommenden Sonntag gar nicht die wichtigsten. „Die Kommunalwahl ist für mich gleich wichtig, wenn nicht wichtiger“, sagt der 19-jährige Max. „Für mich ist sie wichtiger“, fügt Anna, ebenfalls 19 Jahre alt, an.

Max erinnert an den Rechtsextremisten Lars Schieske, der vergangenen Sommer für die AfD im Kampf um das Amt zum Oberbürgermeister bis in die Stichwahl kam. Mit großem Abstand konnte sich dann doch der SPD-Gegenkandidat durchsetzen. Damals hätte ganz Brandenburg auf die Wahl geschaut. „Im Lokalen sind die Folgen einer Wahl viel absehbarer“, sagt er. Da scheint Europa weit weg.

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