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Dieses so rätselhafte wie lebendige Innenleben

Thomas Lehr geht auf Augenhöhe, Hans-Gerd Koch beleuchtet die Familie, Rüdiger Safranski lässt ihn um sein Leben schreiben: ein Überblick über neue Bücher zu Kafka

Prag wirkt mancherorts selbst kafkaesk. Das Haus Zeltnergasse 3, in dem die Familie Kafka von 1897 bis 1907 wohnte, rechter Flügel, 2. Stock Foto: Jan Parik/Ullstein

Von Helmut Böttiger

Es gab Zeiten, in denen alle Schriftsteller wie Franz Kafka schreiben wollten. Auf der Tagung der Gruppe 47 im Frühjahr 1951 rief einer der Teilnehmer entrüstet aus: „Bei der nächsten Erwähnung Kafkas bekomme ich einen Schreikrampf!“ Der Name des mythischen Prager Schriftstellers war da nämlich gerade ungefähr zum zwanzigsten Mal gefallen, und Ilse Aichinger wurde einmal versehentlich sogar mit „Fräulein Kafka“ angesprochen. Und ein paar Jahre später schrieb Klaus Wagenbach nach einer Gruppentagung: „Für junge Autoren sollte Kafka rezeptpflichtig sein.“

Heute hat sich das gelegt. Angesichts des 100. Todestags geht nur ein einziger Autor das Risiko ein, auf Augenhöhe mit Franz Kafka zu agieren. Thomas Lehr schärft mit seinen „zehn Etüden“ erkennbar seinen eigenen Stil. Ein Titel wie „Die Babylonischen Maulwürfe“ könnte auch über einem der klar konturierten, symbolisch aufgeladenen Prosatexte Kafkas stehen. Lehr findet im juristisch geschliffenen Kafka-Ton neue Versionen klassischer Mythen, er macht ironische und abgrundtief lachende Anspielungen oder er spinnt die Obsessionen Kafkas bis in zeitgenössische Science-Fiction-Welten weiter. Nur in der titelgebenden Etüde „Kafkas Schere“ taucht der Name des Helden direkt auf, mit einem charakteristischen Changieren zwischen absurder Komik und existenzieller Leere. „Kafkas Schere“ ist leichtfüßig und tiefgründig zugleich: „Du wirst schneiden, und du fällst wie endlos in die eine oder in die andere Welt.“

Daneben erscheinen etliche andere Bücher über Kafka. Es gibt erstaunlich viele miteinander konkurrierende „Kafka-Witwen“, die älteste und erste war Klaus Wagenbach, der sich selbst gern so nannte. In einem Hörbuch liest er Erzählungen Kafkas, manchmal wirkt das wie ein Kommentar zu all den verstiegenen Kafka-Exegesen der Literaturwissenschaftler um ihn herum: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.“ Zum Jubiläum erscheint im Wagenbach-Verlag der von Hans-Gerd Koch herausgegebene Bildband „Kafkas Familie“. Ein großer Teil dieser gut hundert Fotos war bisher nicht bekannt und ist Eigentum der Nachkommen von Kafkas Schwestern. Naturgemäß handelt es sich meist um genretypische Porträts und Gruppenbilder, in denen sich oft sehr sublim der gesellschaftliche Wandel zeigt. Es gibt aber auch Bilder von der Hopfenernte in Zürau – auf einem hinreißenden Foto steht Kafka, mit Hut und ungelenk versteckten Händen, neben kräftigen Landarbeiterinnen scheu lächelnd ganz am Rand. Und einmal sitzt er mit dürrem Oberkörper und nur mit einer Badehose bekleidet im Sand des Lidos von Venedig. Es ist ein Band für wahre Liebhaber.

Eine andere Kafka-Witwe ist Hartmut Binder. Seit vielen Jahrzehnten trägt er auch die skurrilsten Materialien zusammen. In zwei umfangreichen Wälzern wird jetzt das gesamte Binder-Archiv opulent dokumentiert. „Franz Kafka – Ein Leben in Bildern“ bringt es auf gut tausend Seiten und besticht durch zahllose kultur- und zeitgeschichtlich aufschlussreiche Fotos und Faksimiles aus dem Alltagsleben in Prag zu Kafkas Zeiten, vom Habsburgerreich bis in die erste tschechische Republik, aus der versunkenen Welt der Kaffeehäuser, Nachtlokale, Kinos und Varietés. Binders parallel erschienenes Buch „Auf Kafkas Spuren“ ist eine Sammlung von mehr als fünfzig zwischen 1967 und 2020 verstreut publizierten Einzelstudien. Sie gehen auch nahezu verwischten Spuren nach, so in Aufsätzen wie „Fiffi, Königin der Luft. Franz Kafkas wiederentdeckter Papierflieger für seine Schwester Ottla“ oder „Vormerkbuch und Wertheimkassa. Zu einer Stelle in Kafkas ‚Verwandlung‘“. Der Ludwigsburger Privatgelehrte ist äußerst skrupulös.

Die im Moment präsenteste Kafka-Witwe ist Reiner Stach. Er hat durch seine dreibändige, auffällig erzählerische Biografie große Aufmerksamkeit erregt, und dieses Jahr setzt er noch einmal neu an. Stach gibt eine eigene „Kommentierte Ausgabe“ der Texte Kafkas heraus, die auf ein größeres Publikum ausgerichtet ist. Der erste Band widmet sich dem „Process“. Die ausführlichen Stellenkommentare beziehen sich häufig auf ein Glossar mit den wichtigsten Stichwörtern. „Einsinniges Erzählen“, „Erzählersignal“, „Spiegelfunktion des Gerichts“ und „Traummotiv“. Stach agiert pragmatisch, bleibt nah am Text und vermeidet allzu theoretische Höhenflüge.

Es gibt sogar Studien über „Franz Kafkas wiederentdeckten Papierflieger für seine Schwester Ottla“

Bestimmt keine ausgesprochene Kafka-Witwe ist Rüdiger Safranski. Er wollte aber offenkundig nicht hintanstehen. Safranskis Titel lautet: „Kafka. Um sein Leben schreiben“. Und das ist natürlich der zentrale Punkt. Deshalb stößt Safranski ständig auf Passagen, die bereits ausgiebig interpretiert worden sind. Fast leitmotivisch kehrt etwa einer der berühmten Briefstellen Kafkas an Felice Bauer wieder: ‚„Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.‘“

Safranski zitiert das in seiner kurzen „Vorbemerkung“, schon auf der zweiten Seite des ersten Kapitels wiederholt er denselben Satz, und natürlich ist diese Kafkastelle auch unvermeidlich, wenn er später auf den Briefwechsel mit Felice zu sprechen kommt. Safranskis Buch ist für seine Verhältnisse mit 250 Seiten ziemlich kurz, und es enthält neben routiniert aufgespürten Motivketten auch lange Inhaltszusammenfassungen der zentralen Werke. Mit zum Besten von Safranskis Buch gehören die Briefstellen von Milena Je­senská, einer der Geliebten Kafkas, an Max Brod. Sie belegen, dass sie Kafka wirklich sehr gut kannte, also auch sein rätselhaftes und weit über seinen Tod hinaus wirkendes Innenleben. Und dieses Innenleben ist nach wie vor in der Lage, diverse Bücher zu verursachen, deren stillschweigendes Einverständnis vor allem in der Erkenntnis besteht: Wir sind mit Kafka immer noch nicht fertig.

Thomas Lehr: „Kafkas Schere“. Wallstein, Göttingen 2024. 79 Seiten, 18 Euro

Franz Kafka: „Ein Landarzt und andere Erzählungen“, gelesen von Klaus Wagenbach. 1 mp3-CD, DAV (Der Audio Verlag), 2017. Ca. 15 Euro

„Kafkas Familie. Ein Fotoalbum“. Zusammengestellt von Hans-Gerd Koch. Wagenbach, Berlin 2024. 208 Seiten, 38 Euro

Hartmut Binder: „Franz Kafka – Ein Leben in Bildern“. Vitalis-Verlag, Prag 2024. 1.000 Seiten, 99,90 Euro

Hartmut Binder: „Auf Kafkas Spuren“. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Wallstein, Göttingen 2023. 1.002 Seiten, 89 Euro

Franz Kafka: „Der Process“. Kommentierte Ausgabe, hg. von Reiner Stach. Wallstein, Göttingen 2024. 384 Seiten, 34 Euro

Rüdiger Safranski: „Kafka. Um sein Leben schreiben“. Hanser, München 2024. 256 Seiten, 26 Euro

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