Russische Kriegsverbrechen in Ukraine: „Leichen auf den Straßen“

Geflohene Augenzeugen berichten über den Horror, den die Bevölkerung der ukrainischen Kleinstadt Wowtschansk nahe Charkiw derzeit erlebt.

Ein ukrainischer Polizeibeamter und ein Staatsanwalt für Kriegsverbrechen inspizieren Bruchstücke einer Gleitbombe vor einem beschädigten Haus nach einem russischen Luftangriff auf ein Wohnviertel in Charkiw.

Beweise für Kriegsverbrechen sichern: Ermittler der ukrainischen Staatsanwaltschaft am Einschlagsort einer russischen Gleitbombe Foto: Evgeniy Maloletka/dpa

BERLIN taz | Die Leichen zweier Frauen, die rote und braune Jacken tragen, liegen mit dem Gesicht nach unten auf der Straße neben dem zerstörten Haus. Neben ihnen liegen Taschen, die ihnen aus der Hand gefallen sind. Vermutlich versuchten die Frauen, die kriegszerstörte Stadt Wowtschansk im Norden des Gebiets Charkiw zu verlassen, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Die Grenze, die russische Truppen Mitte Mai erneut überschritten haben, um eine neue Offensive gegen die Ukraine zu starten. Sie sind bis nach Wowtschansk gekommen.

Nur wenige Meter von den Frauenleichen entfernt ist ein Granatenkrater zu sehen, der dem einer Kamikaze-Drohne ähnelt. Der ukrainische Fotograf Kostyantin Liberov, dem es gelang, die Szene von einer Drohne aus aufzunehmen, ist sich sicher, dass die Frauen nicht durch eine zufällig dort gelegte Mine getötet wurden, sondern durch einen gezielten Drohnenbeschuss.

Sein Video zeigt auch andere Zivilist*innen, die bei dem Evakuierungsversuch getötet wurden. Zum Beispiel neben einem Fahrrad die Leiche eines Mannes, der mitten auf der Straße tot umgefallen ist. „Die Stadt ist voller Tod. Leichen von Zi­vi­lis­t*in­nen auf den Straßen und unter den Trümmern“, beschreibt Liberov, was er in Wowtschansk gesehen hat.

Der Fluss ist zur Frontlinie geworden

Der Fluss Wowtscha, der mitten durch Wowtschansk fließt, ist de facto zur Frontlinie geworden. Der südliche Teil der Stadt ist vollständig unter Kontrolle der ukrainischen Truppen, während der nördliche Teil zu einer großen „Grauzone“ geworden ist, wie man das aktive Kampfgebiet nennt, in die die russischen Besatzer vorgestoßen sind.

Der Nordteil wurde in den ersten Tagen der neuen russischen Offensive zu einem extrem gefährlichen Ort, aus dem Freiwillige und lokale Behörden die Bevölkerung unter Beschuss evakuieren mussten. Es gibt keine genauen Angaben darüber, wie viele Zi­vi­lis­t*in­nen sich heute noch in diesem Teil der Stadt aufhalten. Die lokalen Behörden sprechen von etwa 100 Personen, von denen die meisten älter und behindert sind.

Die Ermittlungsbehörde der Polizei des Gebiets Charkiw berichtete offiziell, dass das russische Militär Dutzende von Zi­vi­lis­t*in­nen aus Wowtschansk und benachbarten Siedlungen gewaltsam in Kellern festhielt und sie als „menschliche Schutzschilde“ benutzte. Der ukrainische Ombudsmann Dmytro Lubinets sagte, er habe von denjenigen, denen die Evakuierung gelungen sei, erfahren, dass die Russen den Zi­vi­lis­t*in­nen mit außergerichtlichen Hinrichtungen gedroht und sie damit zur Kooperation gezwungen hätten.

Oleksandr, 70, über seine Flucht aus Wowtschansk

„Ich schaue meine Frau an und sie hat ein Loch im Hinterkopf“

In einem Fall wurden Menschen drei Tage lang in einem Keller festgehalten, in einem anderen wurden eine ganze Familie und Freiwillige von den Besatzern als Geiseln genommen. Eine Frau berichtete, sie sei gezwungen worden, verwundete russische Soldaten medizinisch zu behandeln.

Diese Informationen werden sowohl von Freiwilligen als auch von Einheimischen bestätigt, mit denen die Menschenrechtsgruppe Charkiw in Kontakt treten konnte. „Wir wissen, dass die Menschen schwimmend über den Fluss geflohen sind. Es waren ältere Menschen, für die das extrem schwierig war“, sagte Wjatscheslaw Pidhornyj, Direktor der Stiftung World and Ukraine.

Da es in den umkämpften Gebieten so gut wie keinen Mobilfunk gibt, haben die Menschen kaum eine Chance, sich bei der Polizei zu melden, um evakuiert zu werden, sondern müssen auf eigene Faust fliehen. Freiwillige Helfer berichten, dass sie immer wieder auf Menschen getroffen sind, die viele Kilometer entlang der Frontlinie gelaufen sind, um die Stadt zu verlassen. Einer von ihnen ist Oleksandr mit seiner Frau und einem Nachbarn.

Strafverfahren wegen neuer Kriegsverbrechen eröffnet

Der 70-jährige Oleksandr überredete seine gehbehinderte Frau, die Stadt zu verlassen, als das russische Militär mit den Straßenkämpfen in Wowtschansk begann. Er lieh sich von einem Nachbarn einen Rollstuhl, setzte seine Frau hinein und die drei machten sich zu Fuß auf den Weg, um unter Beschuss aus der Stadt zu fliehen. Nach einiger Zeit blieb das Rad des Rollstuhls im Boden stecken. Oleksandr bückte sich, um es herauszuziehen, als er eine Maschinengewehrsalve hörte. Als er sich umdrehte, sah er seinen Nachbarn mit offenen Augen tot auf dem Boden liegen und seine Frau lag mit dem Kopf auf seiner Brust.

„Ich schaue meine Frau an und sie hat ein Loch im Hinterkopf und man kann ihr Gehirn sehen … Ich wusste nicht, dass die Russen in einem Haus in der Nähe einen Hinterhalt gelegt hatten. Ich fing an, sie anzuschreien: 'Was macht ihr da? Wir sind Zivilist*innen!“, berichtete der Rentner der ukrainischen Staatsanwaltschaft. Er versuchte noch, die Leiche seiner Frau ein paar hundert Meter weiter in das nächste Gebäude zu ziehen, schaffte es aber nicht mehr und musste sie auf der Straße lassen.

Später veröffentlichten ukrainische Luftaufklärer ein Video, das die Leiche einer Frau in einem Rollstuhl zeigte.

Die ukrainische Staatsanwaltschaft hat bereits mehrere Strafverfahren wegen neuer Kriegsverbrechen durch die Russen eröffnet. Es geht um die Erschießung eines Einheimischen aus der Nähe, das Verschwinden eines Einheimischen und die Schießerei auf einen Einheimischen, in dessen Haus sie eingebrochen sind und ihm schließlich den Finger abgeschossen haben. Darüber hinaus hat das russische Militär die Evakuierungsfahrzeuge von Freiwilligen und Po­li­zis­t*in­nen beschossen. Alle diese Handlungen gelten als Kriegsverbrechen.

Die Ein­woh­ne­r*in­nen von Wowtschansk haben bereits im Jahr 2022 russische Besatzung erlebt. Damals errichtete das russische Militär in der Stadt Folterlager. Die Erinnerung daran ist noch frisch. Eine geflohene Einwohnerin berichtete ukrainischen Jour­na­lis­t*in­nen unter Tränen von ihren Erlebnissen: „Die russische Besatzung bedeutet Tod. Das möchte ich nie wieder erleben.“

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