Streaming-App ReelShort: Millionär*innen, CEOs und Vampire
Vertikal gefilmte Telenovelas im Stile von Tiktok in Minutenlänge: Die chinesische App ReelShort wird immer populärer. Was steckt dahinter?
500.0000 Dollar – für dieses Geld soll Amelia Hart ein Jahr lang so tun, als wäre sie mit dem Milliardär Nathan Reed verheiratet, außerdem soll sie ein Kind für ihn austragen, „no sex“ allerdings, wie dieser betont. Denn Nathan macht das nicht für sich, die Ehe ist ein ausdrücklicher Wunsch seines Großvaters. Amelia nimmt den Deal an, weil ihre Schwester Krebs hat und 300.000 Dollar für die Behandlung benötigt. Ein Glück ist da, dass sowohl Nathan als auch Amelia so attraktiv sind.
Das ist die Prämisse von „The Billionaire Baby Bargain“, mit rund 60 Millionen Aufrufen eine der erfolgreichsten Serien auf ReelShort. Oder wie wäre es mit „Divorced and Desired“! „My Trio of Elite Suitors“? Darin geht es um Ivory Reeves, eine junge, attraktive und sehr wohlhabende Frau, die sich als einfache Verkäuferin auf einem chinesischen Fischmarkt ausgibt, um einen bescheidenen Ehemann zu finden. Plötzlich aber gibt es gleich drei Männer, die um ihre Hand anhalten. 14 Millionen Mal wurde diese Serie angeschaut und gehört damit ebenfalls zu den populärsten auf ReelShort.
Das Besondere: Die jeweils ungefähr 80 Folgen dieser Telenovelas sind nur 45 bis 90 Sekunden lang und (wie Tiktoks oder Reels auf Instagram) im Hochformat gedreht. Wie beide Beispiele schon andeuten, orientieren sich die Serien in Sachen Inhalt, Dialog und Schauspielleistung eher auf Vorabendfernsehniveau – leicht konsumierbare Soaps für diejenigen, die die kurzen und schnellen Videos des Internetzeitalters gewohnt sind. Ihr Inhalt ist voller Herzschmerz, trashig, ein wenig „spicy“ und vor allem vorhersehbar. Das Zielpublikum von ReelShort sind Frauen mittleren Alters – laut einem Artikel in der New York Times sind 75 Prozent der User*innen weiblich.
Werwölfe und toxische Beziehungen
Gelauncht wurde ReelShort im August 2022. Die App gehört zu den Crazy Maple Studios aus Kalifornien, hinter denen wiederum die chinesische COL Group steht, und bietet bisher vor allem englischsprachige und chinesische (mit englischen Untertiteln) Produktionen an. „Toxic & Taboo“, „Werewolf & Vampire“, „Love at First Sight“ oder „Asian Stories“ lauten die Überkategorien dieser Soap Operas. Im Fokus stehen meistens Millionär*innen, CEOs oder Vampire. Anders als Quibi, eine ähnliche App, die 2020 in von DreamWorks-CEO Jeffrey Katzenberg ins Leben gerufen und noch im selben Jahr wieder vom Markt genommen wurde, hat ReelShort kein Abo-, sondern ein „Pay as you go“-Modell. Das bedeutet, dass die ersten rund zehn Folgen der Serien gratis abrufbar sind (übrigens auch auf Tiktok oder Youtube), wer dann weiterschauen möchte, muss zahlen.
Interessant ist dabei das Bezahlmodell: ReelShort benutzt ein App-eigenes Währungssystem namens Coins, mit dem die zusätzlichen Episoden freigeschaltet werden. 1.000 Coins kosten derzeit 11,99 Euro, 5.000 Coins gibt es für 59,99 Euro. Die Kosten, um sich eine Soap vollständig anzuschauen, belaufen sich auf grob 20 Euro. Man hat aber auch die Möglichkeit, innerhalb der App Werbung anzuschauen und dadurch weitere Coins zu generieren. Pro Werbung gibt es 15 bis 40 Coins, sieben Werbungen (Videos wie simple Grafiken) kann man pro Tag abrufen.
Ein durchaus lukratives Geschäft für ReelShort. Laut Crazy Maple Studios kosten die Produktionen der Serien maximal 300.000 Dollar. Die Schauspieler*innen sind zumeist unbekannt, es braucht kein aufwendiges Set, keine großartige Ausstattung, schließlich kommt es bei vertikalen Videos wenig darauf an, was im Hintergrund zu sehen ist. Dieses Businessmodel trägt sich – bis Dezember 2023 soll ReelShort Einnahmen von 22 Millionen Dollar generiert haben. An einigen Tagen verzeichnete die App sogar mehr Downloads als Tiktok, der Großteil davon kam aus den USA, gefolgt von Indien und den Philippinen.
Schlechte Bezahlung, hohe Reichweite
Dass ReelShort ausgerechnet im Jahr 2023 in den Vereinigten Staaten so an Fahrt aufnahm, ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, welches andere große Ereignis in der Entertainment-Industrie zeitgleich geschah: der Streik der Drehbuchautor*innen und Schauspieler*innen, der dazu führte, dass sämtliche Late Night Shows und Serien, die sich nicht schon in der Post-Production befanden, pausiert werden mussten. Entsprechend waren die Zuschauer*innen auf der Suche nach einem Ersatz. Vor allem aber lassen die schematischen Handlungen, die holzschnittartigen Figuren und die holprigen Dialoge den Rückschluss zu, dass die Drehbücher gänzlich oder zumindest teilweise mithilfe von AI geschrieben werden. Bei ReelShort zählt Masse, nicht Klasse: Bis zu 100 Produktionen will die App allein dieses Jahr veröffentlichen.
Einige der Schauspieler*innen hoffen, ReelShort möge ihr Sprungbrett nach Hollywood sein, während andere sich über die Möglichkeit freuen, in viele unterschiedliche Rollen zu schlüpfen. Reich werden sie mit den Drehs der Telenovelas nicht: Laut dem US-amerikanischen Rolling Stone, der sich auf mehrere anonyme Quellen beruft, bekommen die Schauspieler*innen zwischen 300 und 500 Dollar pro Tag bei einer Produktionsdauer von etwa einer Woche.
Zu einer breiteren Bekanntheit kann dies trotzdem beitragen. Der oben erwähnte New-York-Times-Artikel zitiert Camille James Harman, die unter anderem in dem mit acht Oscars nominierten Film Vice zu sehen war. Sie bekomme „viel mehr Reaktionen“ auf ihre Rolle als böse Stiefmutter in der ReelShort-Produktion „The Double Life of My Billionaire Husband“ als auf Vice.
Noch lässt sich nicht einschätzen, ob ReelShort langfristig überleben wird. Derzeit ist die App sehr weit davon entfernt, eine ernsthafte Konkurrenz für Streamingdienste oder Tiktok zu sein. Aber sie trifft durchaus den Zeitgeist: Die Ära des sogenannten „Peak-TVs“ mit aufwendig produzierten Serien, deren Kosten pro Folge mehrere Millionen Dollar betragen, scheint vorbei zu sein. Es ist außerdem die Weiterentwicklung des Trends, extra fürs Smartphone konzipierte Videos zu gucken. Und damit vielleicht auch zukunftsweisend.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden