Flüchtlingscamp im Westjordanland: Kein Staat in Sicht

Israel führt immer häufiger Razzien im Westjordanland durch, Hunderte Palästinenser starben bereits. Unterwegs mit einer Ersthelferin.

Zwei Personen laufen durch eine Straße in der Westbank

Ersthelferin Dalia Hodeidah in den Straßen von Tulkarem. Im Hintergrund sind Flaggen von radikalen Milizen zu erkennen Foto: Lisa Schneider

TULKAREM taz | An diesem Freitagmorgen ist es ruhig im Flüchtlingscamp von Tulkarem. Die Läden bleiben geschlossen, die Menschen daheim – es herrscht Generalstreik. In der Nacht zuvor wurden bei einer Razzia des is­rae­li­schen Militärs in dem vom Palästinenserhilfswerk UNRWA betriebenen Camp im nördlichen Westjordanland drei junge Männer getötet.

Dalia Hodeidah war die ganze Nacht auf. In einer Uniform des palästinensischen Roten Halbmonds, sorgfältig geschminkt, aber mit müden Augen sitzt sie auf dem Sofa im Wohnzimmer ihrer Familie. Für den Roten Halbmond ist sie im Camp als Ersthelferin im Einsatz: wenn sich ein Kind verletzt oder ein älterer Mensch einen Herzinfarkt erleidet – und wenn die israelische Armee bei ihren Razzien das gesamte Camp abriegelt und somit eine medizinische Versorgung außerhalb unmöglich wird.

Auf einem Tischchen hinter Hodeidah steht ein Bild ihres Bruders, im Hintergrund ein Bild der Al-Aksa-Moschee. „Der Märtyrer Mahmoud Ali ­Hodeidah“, ist darauf zu lesen und: „13. November 2023“.

Er sei einer der ersten Märtyrer des Camps gewesen, sagt sie. Vor dem Krieg habe er als Bauarbeiter in Israel gearbeitet, zu den Terrormilizen Hamas oder Palästinensischer Islamischer Dschihad, die beide im Camp präsent sind, habe er nie gehört. Auch vor dem Haus der Familie im Camp hängt sein Bild. Im Gegensatz zu den vielen Märtyrerplakaten, die hier an den Wänden die Straßen säumen, ist auf Mahmoud Hodeidahs Bild kein Logo der Milizen zu sehen.

Die Milizen zeigen Präsenz

Als ihr Bruder im November starb, war sie – wie auch in der Nacht zuvor – als Ersthelferin im Camp unterwegs, sagt sie. „Jemand hat mir erzählt, dass er verletzt wurde“, erinnert sie sich. „Da hatte ich schon das Gefühl, dass er tot ist.“

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober nehmen die Razzien gegen palästinensische Milizen im Westjordanland zu – und fordern immer mehr Opfer. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) sind seit dem 7. Oktober 520 Palästinenserinnen und Palästinenser im West­jor­dan­land ums Leben gekommen, darunter 111 Minderjährige und fünf Frauen. Besonders im Norden des Gebiets – in den Städten Tulkarem, Nablus und Dschenin – knallt es häufig.

Alle drei Orte liegen im A-Gebiet, einem von drei Gebieten, in die das Westjordanland unterteilt ist. Während die C-Gebiete, zu denen die israelischen Siedlungen gehören, alleine von Israel kontrolliert werden, werden die B-Gebiete von Israel und der PA gemeinsam verwaltet. Die A-Gebiete sollten alleine von der PA kontrolliert werden – eigentlich.

Denn wer nach Tulkarem oder durch Nablus fährt, merkt schnell: Das Sagen haben auch hier das israelische Militär – und die Milizen. Einen palästinensischen Staat, wie ihn etwa Spanien, Irland und Norwegen anerkennen wollen, der die Kontrolle über das gesamte Territorium des Westjordanlands und Gaza ausübte, gibt es nicht.

Die Milizen zeigen offen Präsenz, vor allem in den Flüchtlingscamps der Gegend, die meist kurz nach 1948 für aus dem heutigen Israel Geflohene und Vertriebene entstanden sind. Man findet ihre Logos nicht nur auf Märtyrerplakaten, sondern sieht sie auch am helllichten Tag. In einem Auto, das durch das Camp Tulkarem fährt, sitzen vier junge Männer, ein Scharfschützengewehr in der Mittelkonsole, die Kopfbinden der Hamas um die Nackenstützen der Sitze gebunden. Sie grüßen freundlich.

Die zunehmende Zahl an Razzien des israelischen Militärs waren ein Grund für ­Dalia ­Hodeidah und die anderen freiwilligen Ersthelfer des Roten Halbmonds, im Camp eine Erste-Hilfe-Station einzurichten. Um den Raum zu finden, muss man ihr von ihrem Haus am Rande des Camps tiefer hi­nein in die engen Gassen folgen. Die sind teils so schmal, dass kein Auto hindurchpasst. 30.000 Menschen leben hier.

Hodeidah läuft über eine aufgerissene Straße, vorbei an einem zerstörten Haus – beides das Ergebnis einer Militärrazzia. Tiefer im Camp sind über den Straßen zwischen den Häuserfronten Plastikplanen aufgespannt, gehalten von Schrauben in den Wänden der Gebäude. Sie schützen auch vor der Sonne, aber in erster Linie vor den Drohnen des israelischen Militärs. Ihr monotones Surren ist auch über dem Camp zu hören.

Unter den Planen stoßen zwei junge Männer zu Dalia ­Hodeidah. Einer von ihnen ist Nimer Fayad. Auch er ist freiwilliger Ersthelfer beim palästinensischen Roten Halbmond, der andere stellt sich nicht vor. Die kleine Gruppe läuft an einem Café vorbei. Für einen kurzen Moment ist die mit Folie verklebte Tür geöffnet. ­Drinnen ­sitzen bewaffnete Männer in dunkler Kleidung. Fayad gibt ihnen rasch ein Zeichen, und die Tür schließt sich. Auch durch die ebenfalls verklebten Fenster ist kein Blick mehr zu erhaschen.

Der Notversorgungsraum, den die Freiwilligen eingerichtet haben – mit Unterstützung der internationalen Organisation Ärzte ohne Grenzen – ist vollkommen zerstört. Den Boden bedecken Scherben und Plastikflaschen, in denen einmal Kochsalzlösung war. Kleine Schnitte in das weiche Material haben sie ihres Inhalts entleert. Das Werk israelischer Soldaten, sagen ­Hodeidah und Fayad.

Fayad arbeitete vor dem Krieg als Krankenpfleger in Israel. Gleich nach dem 7. Oktober wurde ihm die Genehmigung dafür entzogen – damit verlor er seinen Job.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Es gibt eine Menge Checkpoints im Westjordanland. Teils an der Grenze zu Israel, aber einige liegen auch zwischen den Städten. Viele wurden seit dem 7. Oktober geschlossen – teils wochenlang und immer wieder, ohne Vorwarnung an die Bevölkerung. Bis heute gibt es etwa in die Stadt Nablus, das Herz der Region um Tulkarem, nur zwei Zufahrtsmöglichkeiten. Mit fest installierten orange Metallschranken kann das israelische Militär außerdem die Wege im Westjordanland ganz einfach blockieren und wieder öffnen.

Nimer Fayad sucht nun nach einer neuen Arbeitsstelle. In Ramallah zu arbeiten, das könnte er sich vorstellen. Aber es ist nicht so einfach. Obwohl Ramallah und Tulkarem nur 80 Kilometer voneinander entfernt liegen, braucht man für die Strecke oft Stunden. Den Blockaden auf den kleinen Straßen durch die Hügel auszuweichen dauert lang. Ein zusammenhängendes palästinensisches Staatsgebiet, wo sich dessen Bürger frei bewegen könnten, gibt es nicht.

Im Camp öffnet schließlich doch ein Imbiss. Er verkauft frische, heiße Falafel in Pitabroten, Kinder stehen Schlange. Ein junger Mann kauft eine große ­Portion Hummus. Drei unschuldige junge Männer seien in der Nacht getötet worden, sagt er, eine Tragödie. Der Palästinensische Islamische Dschihad bestätigt später, dass die Männer für die Miliz gekämpft haben. Über dem Brutzeln des heißen Öls ist das Surren einer Drohne zu hören.

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