Die andere Seite von Rafah

Seit 1979 herrscht Frieden zwischen Israel und Ägypten. Die Offensive gegen Rafah aber stellt die Beziehungen zwischen den Nachbarländern vor eine Zerreißprobe

Kein Vor, kein Zurück: Zeltstadt für Geflüchtete in Rafah, aufgenommen am 5. Mai Foto: Omar Ashtawy/dpa

Aus Kairo Karim El-Gawhary

In Kairo schrillen die Alarmglocken. Wochenlang hatte die ägyptische Regierung vor einer israelischen Militäroperation in der palästinensischen Stadt Rafah ganz im Süden des Gazastreifens gewarnt. Mit großem Ärger beobachtet man jetzt auf ägyptischer Seite den sich seit Tagen immer mehr ausweitenden is­rae­li­schen Angriff auf Rafah und die israelische Übernahme des Grenzübergangs zu Ägypten.

Zwischen Ägypten und Israel herrscht eine Eiszeit, wie sie die beiden Länder seit der Unterzeichnung des Camp-­David-Friedensvertrags 1979 nicht erlebt haben. In einer ersten Reaktion hat Ägypten die Sicherheitskooperation mit der israelischen Armee an der Grenze suspendiert. Das betrifft auch alle Hilfsgüter für den Ga­za­strei­fen, die via Ägypten und jeweils mit Zustimmung Israels geliefert wurden – keine Koordination, keine Lieferungen.

In einem zweiten Schritt hat Ägypten angekündigt, sich Südafrika in dessen Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag anzuschließen, in der Israel des Genozids an den Palästinensern bezichtigt wird. Laut wird in Kairo auch darüber nachgedacht, die Beziehungen zu Israel herunterzuschrauben und den ägyptischen Botschafter aus Tel Aviv abzuberufen.

Sorge vor Rückzug Ägyptens

Hisham Hellyer, der für die ­Carnegie-Stiftung und das ­Royal United Services ­Institute for ­Defence and Security ­Studies in London die Lage analysiert, sagt: „Die Ägypter suchen einen Weg, zum alten Status quo zurückzukehren, bevor die israelische Armee den Grenzübergang übernommen hat. Und sie ziehen dabei alle Register.“ Es gehe nicht nur um die Übernahme des Grenzübergangs, sagt Hellyer. „Wir reden von einer is­rae­li­schen Invasion Rafahs. Die Idee, dass die noch nicht in vollem Gange ist und es sich nur um eine begrenzte Militäraktion handelt, ist lächerlich“, sagt er der taz.

Er argumentiert auch, wie die ägyptischen Medien, dass der israelische Angriff auf Rafah bestehende Verträge zwischen Ägypten und Israel verletzt, in denen eine Art entmilitarisierte Zone im unmittelbaren Grenzgebiet festgelegt ist, in der bestimmte Arten von schweren Waffen, die die israelische Armee gerade dort im Einsatz hat, verboten sind.

Viel Manövriermasse hat Ägypten nicht, meint Hellyer. „Es hat klar seine Opposition gegen die israelische Militärkampagne in Rafah zum Ausdruck gebracht, und es hat seine westlichen Alliierten aufgefordert, in dieser Sache mehr Druck zu machen. Eigene Druckmittel auf Israel hat Ägypten wenige“, erklärt er.

Auch in Israel werden die zunehmend frostigen Beziehungen besorgt wahrgenommen. So berichtet die israelische Tageszeitung Haaretz von der Sorge israelischer Regierungsbeamter, dass Ägypten, neben Katar der wichtigste Vermittler in den Waffenstillstandsverhandlungen zwischen der Hamas und Israel, sich aus diesen zurückziehen könnte.

Hisham Hellyer glaubt, dass das aus ägyptischer Perspektive allerdings wenig Sinn ergebe. „Die ägyptische Regierung möchte aus strategischer Sicht nicht weniger Kontakt mit Israel haben. Sie müssen vermitteln, sie müssen sich engagieren, um Wege zu finden, die Lage zu deeskalieren.“

Sorge vor Massenexodus

Die größte Sorge Ägyptens bleibt die Möglichkeit eines Massenexodus der Menschen von Rafah nach Ägypten. „Wenn es eine Massenvertreibung gibt, dann bedeutet das, dass Ägypten willentlich oder gegen seinen Willen Teil einer ethnischen Säuberung wird“, beschreibt Hellyer die ägyptische Panik. ­Schließlich, fügt er hinzu, gebe es kein einziges Beispiel in der palästinensischen Geschichte, dass die Menschen ihre Häuser verließen und später wieder zurückkehren konnten. Die Ägypter fürchten auch, dass damit die gesamte ­Palästinenserfrage schwer ­beschädigt würde. „Wenn die Palästinenser aus dem Gazastreifen vertrieben werden, macht das Gerede über eine Zweistaatenlösung keinen Sinn mehr“, sagt Hellyer.

Mit der israelischen Übernahme des Grenzübergangs in Rafah kommt nun noch ein weiteres Problem hinzu: Selbst wenn die israelische Armee gewillt wäre, sich von dort wieder zurückzuziehen, gibt es überhaupt keinen Plan, was dann passiert. Wer soll dann dort die Kontrolle bekommen? Es kursieren israelische Pläne, dass dann Palästinenser, die nicht mit der Hamas verbunden sind, die Kontrolle übernehmen, ohne diese zu definieren. Außerdem solle der palästinensischen Selbstverwaltungsbehörde im Westjordanland dort in einer Art „Aufsichtsgremium“ eine Rolle gegeben werden. Die hat diese bereits abgelehnt.

„Die Idee, dass die Invasion noch nicht in vollem Gange ist, ist lächerlich“

Hisham Hellyer, Politologe

Hellyer bezeichnet solche Pläne als grotesk. Das Problem, das Israel mit dem Grenzübergang hat und damit, wer ihn später kontrolliert, sei symptomatisch für alle kursierenden israelischen Nachkriegspläne, meint er: „Sie machen alle keinen Sinn.“

Sorge um Friedensvertrag

Das Grundproblem sei, dass bei all diesen Plänen Israel die Sicherheitskontrolle über den Gazastreifen behalten wolle. Jeder, der dabei für Israel eingesetzt würde – egal ob undefinierte Gruppen von Palästinensern außerhalb der Hamas, arabische oder internationale Friedenstruppen –, sie alle hätten sofort den Ruf weg, als Kollaborateure für die Besatzung den Polizisten zu spielen.

Immerhin – den Camp-­David-Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten, einen der „wichtigsten Bausteine der regionalen Sicherheitsarchitektur“, sieht Hellyer derzeit nicht in unmittelbarer Gefahr. „Ägypten verlässt sich darauf. Die ­Region ­verlässt sich da­rauf. Es wäre sehr dramatisch, dies anzugreifen. Aber wäre es völlig undenkbar?“, fragt er, macht eine kleine nachdenkliche Pause und antwortet sich selbst: „Nein, ­völlig undenkbar ist das nicht.“