Parlamentswahl in Indien: Wirtschaften wie in Gujarat
Premier Modi formt Indien nach dem indischen Bundesstaat Gujarat. Dort blüht die Wirtschaft, aber laut Kritiker:innen profitieren davon nur wenige.
Von April bis Juni wird in Indien ein neues Parlament gewählt. Es gibt sieben Wahltermine, Gujarat war am 7. Mai an der Reihe. Es ist der Heimatstaat des amtierenden Premierministers Narendra Modi. Der 73-Jährige gilt als wirtschaftsfreundlicher Stratege, Vertreter des hinduistischen Mehrheitsprinzips und ist auch nach zwei Amtszeiten noch der Spitzenkandidat der hindunationalistischen Volkspartei BJP.
Gujarat spielt für Premier Modi eine besondere Rolle. Von 2001 bis 2014 war er hier Ministerpräsident, was ihm den Sprung nach Delhi ermöglichte. Damals proklamierte Modi, er werde „Entwicklung“ nach Indien bringen. Als Beweis diente ihm Gujarat. Zu den wichtigsten Industriezweigen gehören Textilien, Chemie, Erdöl und die Diamantenverarbeitung. Im vergangenen Jahr eröffnete Modi in Surat eine neue Diamantenbörse.
Am 7. Mai blieb es dort ungewöhnlich still. Auch in Surat hätte am Dienstag gewählt werden sollen. Doch ein Kandidat wurde wegen eines Formfehlers abgelehnt und die anderen traten zurück. Übrig blieb Mukesh Dalal von Modis BJP, die den Bundesstaat Gujarat seit 1995 regiert. Die Wahlkommission erklärte Dalal daraufhin kurzerhand bereits zwei Wochen vor Beginn der Wahl zum Sieger des Wahlkreises.
„Teil der Modi-Familie“
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
„Das hat niemanden überrascht“, sagt der 39 Jahre alte Diamantenhändler Trishul Patel. Dass sich die BJP durchsetzen würde, war den Bewohner:innen klar. Gut kam es dennoch nicht bei allen an. Auch weil viele Privatunternehmen ihren Angestellten am Wahltag freigeben, ohne Wahl der freie Tag aber wegzufallen drohte. Einige Arbeitgeber reagierten – und schenkten sich und ihren Angestellten in Surat auch ohne Wahl einen freien Tag.
Patel freut sich darüber. Nun kann er verfolgen, was im Rest des Bundesstaates passiert. Das westindische Gujarat stellt mit seinen 72 Millionen Einwohner:innen 26 der 543 Abgeordneten im Unterhaus des indischen Parlaments. 2019 gewann die BJP noch alle Sitze. In diesem Jahr gehen Beobachter:innen davon aus, dass die konkurrierende Kongresspartei, die sich mit der Antikorruptionspartei AAP zusammengeschlossen hat, bis zu sechs Sitze gewinnen könnte.
In Surat jedoch bleibt Dalal unangefochten. An seinem Anwesen klebt ein Sticker mit der Aufschrift „Teil der Modi-Familie“. Dalal, ein langjähriges BJP-Mitglied, schwärmt gegenüber der taz von Modi. Er sei ein zielstrebiger, engagierter Mann mit klaren Vorstellungen von Nationalismus. „Modi hat eine umfassende Entwicklung des Landes ermöglicht“, sagt er. Unter ihm sei die Korruption eingedämmt worden, und es gebe keine großen Skandale wie unter der Vorgängerregierung, behauptet Dalal.
Modi lockte Unternehmen nach Gujarat
Als Modi im Bundesstaat Gujarat regierte, habe er große Privatunternehmen ermutigt, in Infrastruktur zu investieren, und ein dezentrales Regierungsmodell eingeführt, sagen seine Befürworter. Der Bundesstaat verfügt, wie nur wenige Regionen Indiens, über eine ununterbrochene Strom- und Wasserversorgung. Die Straßen sind gut instandgehaltenen.
In den Jahren 2000 bis 2010 lag das Wirtschaftswachstum mit durchschnittlich 8,6 Prozent fast 1,5 Prozentpunkte über dem indischen Durchschnitt. Mit Steuererleichterungen, günstigen Gewerbeflächen, weniger Umweltauflagen und Arbeitnehmerschutz lockte die Regierung des Bundesstaats Unternehmen an. Heute gilt Gujarat als einer der wirtschaftsfreundlichsten Bundesstaaten des Landes.
Seit den 60er Jahren ist Surat bekannt für die Diamantenverarbeitung. Damals begannen Händler der verschlafenen Stadt, Diamanten aus dem Ausland zu den örtlichen Edelsteinschleifern zu bringen. Heute werden weltweit 8 von 10 Diamanten in Indien verarbeitet.
„Die Diamantenindustrie ist autark. Wir brauchen keine wesentliche Unterstützung von der Regierung“, sagt Jayanti Narola, Chef von Shri Krishna Private Limited (SRK), einem der führenden Unternehmen in der Diamantenverarbeitung mit Sitz in Surat. Narola sagt über Narendra Modi, er sei ein „selbstloser Mann“.
Die Wirtschaft ist angeschlagen
Derzeit glänzt die Wirtschaft in Gujarat weniger. Erst sorgte die Pandemie für einen Rückgang. Nun wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf die Diamantenindustrie aus. Die G7-Staaten haben seit diesem Jahr Importbeschränkungen für Diamanten aus Russland verhängt. Dazu kommt die Konkurrenz, die Labordiamanten für Surats natürliche Diamanten darstellen. Auch SRK spürt die Krise. Die Verkäufe haben sich abgeschwächt.
Dennoch gehört Gujarat zu den Top-drei-Bundesstaaten mit den höchsten ausländischen Direktinvestitionen. Landesweit hat es einen Anteil von etwa 17 Prozent. Die Regierung verweist gerne auf das „Gujarat-Modell“. In vielen Bildungs- und Entwicklungsindikatoren liegt der Bundesstaat jedoch hinter Südindien. Das Geld kommt nicht bei allen an.
Auch für die Textilhändler in Surat hat die Regierung Modi zunächst nachteilige Entscheidungen getroffen: Die Einführung einer Waren- und Dienstleistungssteuer hat den Wettbewerb für sie erschwert. Dennoch sagt Verbandspräsident Kailash Hakim der taz: „Die Modi-Regierung hat ein günstiges Umfeld für das Wachstum von Unternehmen geschaffen und Textilexporte angekurbelt.“
Die Politik verschärft die Ungleichheiten im Land
Tatsächlich hat die Regierung Zuschüsse für Logistik und die Ausbildung von Fachkräften gestellt. Im Vorraum von Hakims Büro steht ein fast lebensgroßer Pappaufsteller von Premierminister Narendra Modi. Parteimitglied sei er nicht, aber er möge Modi, sagt Hakim. Gujarat profitiere davon, dass dieselbe Partei auf Landes- und Bundesebene an der Macht sei. Nicht alle sehen die Entwicklung in Gujarat aber so positiv. „Modi hat riesige Ressourcen an Industriekonzerne übergeben. Das ist sein „Gujarat-Modell“, sagt der Oppositionspolitiker Jignesh Mevani (Kongresspartei). Seine Politik nutze vor allem Konzernen.
Indira Hirway, Ökonomin
Die renommierte Wirtschaftswissenschaftlerin Indira Hirway vertritt einen ähnlichen Standpunkt. „Wirtschaftlicher Fortschritt sollte zum Wohlergehen aller beitragen“, sagt sie. Doch in Gujarat stünden große Unternehmen im Vordergrund, während die Menschen am unteren Ende der sozioökonomischen Leiter vernachlässigt würden, sagt sie der taz.
Zudem seien auch Weideflächen und Schutzgebiete an Industrielle günstig verkauft worden. Hirway, Direktorin des Centre for Development Alternatives, kritisiert des Weiteren die zunehmende Privatisierung öffentlicher Bereiche. Doch Gesundheitsversorgung und Bildung sollten für alle zugänglich und erschwinglich sein. „Diese Politik verschärft die Ungleichheiten im Land“, warnt Hirway. „Auf der einen Seite haben wir Spitzentechnologie wie KI und Robotik, auf der anderen Seite sind die Armen in der Landwirtschaft, im Dienstleistungsgewerbe und in kleinen Produktionsbetrieben auf primitive Technologien angewiesen.“
Die Reallöhne der Arbeitnehmer:innen hätten in den vergangenen fünf Jahren entweder stagniert oder seien aufgrund der Inflation gesunken, so die Wirtschaftsprofessorin. Dieser Inflationsdruck mache es für normal verdienende Menschen schwierig, ihren Lebensstandard zu halten. In Gujarat werde darüber hinaus einer der niedrigsten Löhne Indiens gezahlt. Den Erfolg des „Gujarat-Modells“ bezeichnet Hirway als einen Hype.
Unterernährung von Kindern ist ein Problem
Auch von Gewerkschaften kommt Kritik. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen in kleinen Diamantenbetrieben. „Das Gujarat-Modell gilt nur für Industrielle. Nicht für Diamantschleifer wie uns, die das Rückgrat der Unternehmen bilden“, sagt Bhavesh Tank. Obwohl Gujarat zu den wohlhabendsten Bundesstaaten Indiens gehört, ist die Unterernährung von Kindern weiter ein Problem. Laut Regierungsangaben betrifft das über eine halbe Million Heranwachsende in Modis Heimat.
Das Gujarat-Modell kann man auch anders verstehen. Der Politikwissenschaftler Christophe Jaffrelot erinnert in seinem neuen Buch, „Gujarat Under Modi“, an die antimuslimischen Pogrome während Modis Amtszeit in Gujarat im Jahr 2002 mit über 1.000 Toten. Gewinne Modi, werde Gujarat in jeglicher Hinsicht zum Labor des heutigen Indiens, so Jaffrelot.
Mitarbeit Mona Thakkar
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Trumps Krieg gegen die Forschung
Byebye Wissenschaftsfreiheit
Altvordere sollen Linke retten
Hoffen auf die „Silberlocken“
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten