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Zu Fuß unterwegs in BerlinDer menschliche Faktor beim Gehen

Natürlich kommt man auch anders durch die Stadt. Aber am frühen Morgen durch Berlin zu gehen, meint unsere Kolumnistin, ist eine besondere Freude.

Manchmal ist man sogar in Berlin wie hier im Tiergarten allein unterwegs Foto: Paul Zinken/picture alliance/dpa

D ie U7 war am frühen Montagmorgen überraschend leer, Sitzplätze für alle! Mir gegenüber saß eine junge Frau, schwarzer Blazer, weiße Bluse, die Augen weit aufgerissen, ihre Hände zitterten. War sie auf dem Weg zu einer Prüfung, einem Vorstellungsgespräch? Ich hätte sie gerne gefragt, ob alles okay ist, aber ich traute mich nicht. Eine kleine Frau lief bettelnd durch den U-Bahn-Wagen, sie weinte. Ich gab ihr etwas Geld und sie wischte sich die Tränen ab und sagte: „Sorry, ich kann gerade einfach nicht mehr.“

Eigentlich hätte ich den frühen Arzttermin gern abgesagt, aber das Buchungssystem der Praxis hatte mich über das Wochenende mit strengen Mails bombardiert: Vergessen Sie Ihren Termin nicht! Noch 2 Tage! Füllen Sie vorher diesen Fragebogen aus! Noch 24 Stunden! Seien Sie 15 Minuten vor dem vereinbarten Termin da! Die letzte Mail war um 6 Uhr morgens gekommen: Noch 2 Stunden bis zu Ihrem Termin! Haben Sie alles vorbereitet?

Doch die künstliche Intelligenz hatte offenbar den menschlichen Faktor nicht einberechnet. Als ich in der Praxis ankam, war mein Termin storniert: Die Ärztin war übers Wochenende erkrankt. Die jungen Frauen am Empfang der schicken Wilmersdorfer Praxis waren so bestürzt darüber, dass ich den weiten Weg so früh am Morgen nun ganz umsonst gemacht hatte, dass ich ihnen nicht böse sein konnte – sie konnten ja auch gar nichts dafür. Sie schimpften selbst über das neue Buchungssystem, weil sie alle im alten System gebuchten Termine selbst in das neue übertragen müssten. Ich freute mich über die gewonnene Stunde: Ich hatte jetzt genug Zeit, zu Fuß zur Arbeit zu gehen.

Am frühen Morgen durch Berlin zu gehen ist eine besondere Freude. Die Luft ist noch gut, die Menschen sind noch frisch und die Gehwege leer – die Touristen schlafen oder frühstücken noch und die meisten Leute stecken in Autos, im ÖPNV oder fahren Rad.

Zur Freude zählt auch: Man begegnet beim Gehen Menschen

Zeit für wortlose Verständigungen

Geht man längere Strecken durch die Stadt, kann man oft Wege durch Grünanlagen nutzen, die morgens noch nicht so bevölkert sind von den anderen zu Fuß. Zur Freude zählt auch: Man begegnet beim Gehen Menschen. Fuß­gän­ge­r:in­nen bewegen sich in zwar unterschiedlichen, aber doch nicht so verschieden schnellen Geschwindigkeiten aufeinander zu oder hinter­einander her, man hat dabei Zeit, zu sehen, was sie bei sich tragen, anhaben oder einfach, wie sie sich bewegen, wie sie gehen.

Man hat Zeit für wortlose Verständigungen darüber und gegenseitige Rücksichtnahme dabei, wer wem Platz macht und zu welcher Seite ausweicht. Man kann sich Gedanken darüber machen, wohin andere auf dem Weg sind, warum sie zu Fuß gehen oder gerade so traurig oder fröhlich oder gestresst sind, wie sie aussehen. Und man kann sich dann zulächeln.

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Man sieht beim Gehen Menschen, Individuen! Nicht bloß bewegliche Blechkisten wie beim Autofahren oder, wie beim Radfahren, nur Hindernisse, die sich in unerwartete Richtungen bewegen könnten.

Natürlich gibt es auch Gehende, die ihren Schutzschild wie einen unsichtbaren SUV um sich herum tragen – die nicht einfach nur gehen, sondern sich offenbar durchkämpfen müssen auf dem Weg, auf dem sie gerade sind.

Manchmal überfordert mich das Sehen und Hören, wenn ich gehe: die Menge anderer Menschen, die ich dabei wahrnehme, die Geräuschkulisse, die Hektik der Stadt. Dann kann ich auch umschalten auf einen anderen Wahrnehmungskanal, auf Autopilot – KI sozusagen: Ich gehe und sehe und denke nur noch: „Rote Ampel!“, ich denke: „Kleiner Hund“ oder: „Blätter rauschen, Wind“. Ich trage dann auch einen Schutzschild. Aber er ist nur aus Watte.

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Kolumnistin taz.stadtland
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