„Ich versuche, ganz ohne Geschmack zu sein“

Der rumänische Regisseur Radu Jude zeigt in seiner schwarzen Komödie „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ den Alltag einer gehetzten Produktions­assistentin. Er erzählt, wie er dabei Trash und Hochkultur zu einer eigenen Form verbindet

Angela (Ilinca Manolache) nimmt ein Video als ihr Alter Ego Bobiță auf Foto: Mubi

Interview Thomas Abeltshauser

Vor drei Jahren erhielt Radu Jude für seine wüste Satire „Bad Luck Banging or Looney Porn“ überraschend den Goldenen Bären der Berlinale. Auch in seinem neuen Werk, dem Dreistundenepos „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“, verwebt der 47-jährige Rumäne mit anarchischer Lust Spielfilmszenen, formale Experimente und politischen Kommentar. Seine Protagonistin Angela (Illinca Manolache) ist eine überarbeitete Produktionsassistentin in Bukarest, die für eine österreichische Auftraggeberin (Nina Hoss) ein Werbevideo über Arbeitssicherheit drehen und dazu Betroffene interviewen soll. Ein ätzend-komischer Höllenritt durch die Abgründe der spätkapitalistischen Gegenwart.

taz: Herr Jude, inwieweit können Sie sich mit der Protagonistin Ihres Films identifizieren?

Radu Jude: Schon sehr. Aber eigentlich bin ich dagegen, aus dem eigenen Leben zu erzählen. Autofiktion, puh. Ich glaube, es fing in Kursen über kreatives Schreiben an und schwappte dann zum Film über. Die Idee, über sich selbst zu sprechen, wurde zur Mode, zum Mantra. Ich unterrichte an einer Filmschule und höre da von Studierenden immer wieder: „Ich will genau darüber einen Film machen, weil es mir so passiert ist.“ Alles andere ist ihnen egal. Dabei ist eins der mächtigsten Dinge, die das Kino tun kann, die Welt zu betrachten und nicht sich selbst.

Trotzdem gibt es autobiografische Bezüge in Ihrem Film …

Alle Geschichten in diesem Film sind mir entweder selbst widerfahren oder ich bin ihnen bei meiner Arbeit begegnet. Wie Angela habe ich in der Filmbranche angefangen, indem ich viele Jahre lang alle möglichen Jobs gemacht habe. Doch es geht nicht um mich. Diese Geschichten symbolisieren etwas Größeres als mein Leben oder auch die Situation in der rumänischen Filmbranche oder meinem Land. So spezifisch es ist, sagt es etwas über uns alle aus. Ich musste für all diese Geschichten nur eine Form finden. Wie in dem Fall die kleinen Begegnungen Angelas mit Menschen, die sie für den Werbefilm über Arbeitssicherheit interviewt. So zeige ich Einblicke in deren Alltag, zeige, wie sie leben und arbeiten, wie sie leiden und hoffen oder resignieren, das ganze Spektrum.

Die Form ist also organisch ge­wachsen?

Organisch ist daran gar nichts. Es war mit viel Leid, viel Mühe und vielen Fehltritten verbunden. Mich interessiert die Struktur von Kunstwerken, wie sie Teil dessen ist, was in einem Film oder einem Roman oder einem Gemälde wichtig ist. Wenn ich eine für mich unbekannte Form sehe, interessiert mich das sehr viel mehr als etwas, das sehr gut gemacht, aber konventionell ist. Wenn ich einen Roman von Sebald lese, finde ich ihn nicht nur wegen des Inhalts bedeutend, sondern vor allem auch wegen der ungewöhnlichen Form, die Sebald dafür gefunden hat. Das ist es, was mich interessiert als Leser, als Betrachter von Malerei und als Hörer experimenteller Musik. Und auch in meiner eigenen Arbeit versuche ich immer, die beste Struktur für ein Thema zu finden, wie eine Collage oder eine Komposition. Ich kann keinen Thesenfilm machen.

Ein wichtiges Element ist diesmal der Film „Angela fährt fort“ von Lucian Bratu aus dem Jahr 1981, aus dem Sie mehrere Szenen einbauen, als „Dialog“, wie es im Vorspann heißt. Wie hat sich das entwickelt?

Es war etwas, das auftauchte, weil sich das Projekt schichtweise entwickelt. Und jede Schicht fügte eine weitere Dimension der Geschichte hinzu. Wie bei Marcel Duchamps Ready-mades versuche ich alles gleichberechtigt zu behandeln, egal ob es sich um meine eigenen Bilder oder die anderer handelt. Die Protagonistin von Bratus Film ist eine Taxifahrerin während der Ceaușescu-Diktatur, und zunächst wollte ich nur eine Szene daraus nehmen, in der man sie am Steuer durch Bukarest fahren sieht. Ich habe dann immer mehr eingebaut, bis es so eine Art Parallelmontage wurde, wie in einem Roman.

Im Film spielen Nina Hoss und der deutsche Krawallfilmer Uwe Boll mit. Auch das ein Kommentar auf die angebliche Unvereinbarkeit von Hochkultur und Trash?

Beides ist doch ästhetisch interessant, wenn man es nur genau genug oder ernsthaft genug betrachtet. Uwe Bolls Filme, ob man sie mag oder nicht, können als Gegenstand einer Analyse genauso bereichernd sein wie ein sogenanntes Meisterwerk. Ich versuche in alle Richtungen offen zu sein, bei meinen Filmen und im Leben. Dieser offene Blick geht aber nicht ohne Bildung. Kunst kann helfen, sich für mehr Ausdrucksformen zu interessieren, mehr angenehme Dinge in seinem Leben zu finden. Ganz davon abgesehen, ist Uwe Boll für mich ein Vorbild in seiner Unverwüstlichkeit und seinem Wunsch, weiterzumachen, obwohl er dauernd verrissen wird. Er ist erstaunlich charmant und ein wirklich guter Schauspieler.

Bei Ihrem vorherigen Film „Bad Luck Banging or Looney Porn“ sprachen Sie vom schlechten Geschmack als Mittel der Provokation …

Das war meine damalige Sichtweise. Mittlerweile bin ich einen Schritt zur Seite getreten. Ich versuche, auf eine Art ganz ohne Geschmack zu sein, die Dinge nicht mit Vorlieben und Abneigungen zu betrachten. Ich versuche andere Perspektiven aufzunehmen, offener zu sein. Ich würde heute sogar sagen: Schlechten Geschmack gibt es nicht. Wenn man etwas vermeintlich Geschmackloses ernst nimmt, wird es zu gutem Geschmack. Mit etwas zu provozieren hängt sehr von der Kultur ab, von der Gesellschaft und der Zeit. Es gibt immer Grenzen, deren Überschreitung eine Art Provokation darstellt. Aber darauf lege ich es mit meinen Filmen gar nicht an. Und bin manchmal ganz erstaunt, wie sie bei manchen Leuten eine solche Aufregung und wütende Reaktion hervorrufen können. Diesmal war vor allem die Form der Stein des Anstoßes. Viele Leute meinten, so sollte ein Film nicht aussehen. Und er wurde als vulgär empfunden, er bekam in Rumänien eine Altersfreigabe von 18 Jahren.

Lässt Sie dieser Widerstand resignieren oder treibt er Sie eher an?

Ich habe überhaupt nichts dagegen, abgelehnt zu werden, weil ich glaube, dass es der erste Schritt zur Akzeptanz sein kann. Mir hat früher auch vieles nicht gefallen, ob Filme, Gemälde oder Literatur. Aber wenn ich dabei starke Reaktionen hatte, blieben sie mir im Gedächtnis. Und im Laufe der Jahre änderte sich meine Sichtweise und ich entdecke plötzlich etwas in Werken, die ich früher abgelehnt habe. Reibung ist notwendig.

Foto: Silviu Gheție

Rado Jude

wurde 1977 in Bukarest geboren und studierte dort bis 2003 an der Medienuniversität. Sein Spielfilmdebüt „The Happiest Girl in the World“ lief 2009 auf der Berlinale. Dort erhielt er 2021 für die Satire „Bad Luck Banging or Loony Porn“ den Goldenen Bären.

Hat denn der Goldene Bär etwas verändert?

Ich versuche mich weder von Erfolg noch Scheitern beeinflussen zu lassen. Wenn man anfängt, Anerkennungen zu glauben, wird es gefährlich. Der direkte Weg zur Neurose. Aber natürlich bekomme ich seitdem etwas leichter Geld für neue Projekte. Es ist wie beim Pferderennen. Wenn du einmal gewonnen hast, setzen sie das nächste Mal auf dich. Aber wenn du dann das Rennen verlierst, ist der Einsatz futsch. Ich versuche, das System so gut wie möglich zu nutzen, bis sie merken, dass ich kein Siegerpferd bin.

Wobei diese internationale Koproduktion zwar mit Nina Hoss einen deutschen Star, aber keine deutsche Förderung hat …

Angela filmt zwischendurch parodistische Tiktok-Videos, in denen sie sich in einen toxischen Typ namens Bobiță verwandelt, der die übelsten Sprüche ablässt. Bei einem deutschen Fond hatten sie Angst, dass diese Figur falsch verstanden wird. „Was ist, wenn die Leute denken, dass dies die Botschaft des Films ist? Was ist, wenn wir beschuldigt werden, einen solchen Film zu unterstützen?“ Sie geben öffentliche Gelder und wollen sich nicht angreifbar machen. Also bevorzugen sie Filme, die unverfänglicher sind.

„Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“. Regie: Radu Jude. Mit Ilinca Manolache, Ovidiu Pîrsan u. a. Rumä­nien/Luxemburg/Frankreich/Kroatien 2023, 163 Min. Ab 3. 5. auf Mubi