piwik no script img

Die EU vor der Europawahl 2024Die Ohnmacht überwinden

Gastkommentar von Pawel Zerka

Die Stärke rechter Parteien erzeugt bei progressiven Wählern ein Gefühl der Machtlosigkeit. In Polen wurde das erfolgreich überwunden.

Pro-Europaparteien müssen ihren Wäh­le­r*in­nen darlegen, warum die kommende Wahl eine Chance ist Foto: Patrick Pleul/dpa

D er tägliche Blick in die Nachrichten ist für Progressive in Europa inzwischen eine schmerzhafte Erfahrung. Die Ukraine stagniert in ihrem Krieg mit Russland, Donald Trump ist auf dem besten Weg zurück ins Weiße Haus, und antieuropäische Parteien schneiden in Meinungsumfragen im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament sehr gut ab.

Europas Bürgerinnen und Bürger können kaum etwas an der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten oder an den Entwicklungen an der Kriegsfront in der Ukraine ausrichten. Doch die Wahlen in den 27 EU-Ländern im Juni bieten ihnen die seltene Gelegenheit der Einflussnahme. Die entscheidende Frage ist: Werden sie sich überhaupt bemühen?

Pawel Zerka

ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR).

In der Vergangenheit hatten es diese Wahlen schwer, die Aufmerksamkeit der Stimmberechtigten zu gewinnen: 2019 ging nur jeder Zweite zur Wahl; in Tschechien, Kroatien und der Slowakei lag die Wahlbeteiligung sogar unter 30 Prozent. Dieses mangelnde Interesse wird häufig mit der weitverbreiteten Annahme erklärt, die Wahl zum Europaparlament habe keine Relevanz.

Doch dieses Jahr gibt es einen entscheidenden Unterschied. In mehreren Ländern sind die Anhänger antieuropäischer Parteien – die sich in der Vergangenheit eher wenig für Europa in­te­res­sier­ten – stark mobilisiert. Der jüngsten öffentlichen Meinungsumfrage des European Council on ­Foreign Relations (ECFR) zufolge geben beispielsweise 71 Prozent der AfD-Anhänger an, dass sie bei den Wahlen zum Europäischen Parlament „auf jeden Fall“ wählen werden – verglichen mit 64 Prozent der Unions-Wähler. In Frankreich und Österreich deuten die Umfrageergebnisse ebenfalls darauf hin, dass die Anhängerschaft der stärksten antieuropäischen Parteien ebenso mobilisiert ist wie die ihrer direkten Konkurrenten.

Wählerschaft etablierter Parteien ist schwer zu mobilisieren

Dass die Wählerschaft der etablierten Parteien in mehreren Ländern so schwer zu mobilisieren ist, lässt sich zum Teil damit erklären, dass sich ihre Kontrahenten erfolgreich „entgiftet“ haben. Kaum jemand glaubt heute noch, dass die ita­lieni­sche Ministerpräsidentin Giorgia Meloni Ita­liens Austritt aus der EU oder der Eurozone im Sinn hat, trotz der Befürchtungen vor dem Wahlsieg ihrer Partei im Jahr 2022.

Dass die Schwedendemokraten die Regierung ihres Landes unterstützen, dürfte in den Augen vieler Wähler die Motive der Partei normalisiert haben. Und auch Marine Le Pen hat es geschafft, ihr persönliches Image und das ihrer Partei zu verbessern – so sehr, dass sie als Spitzenkandidatin für die französische Präsidentschaftswahl 2027 gehandelt wird. Folglich fällt es proeuropäischen Parteien schwer, überzeugend darzulegen, dass Europa vor den Rechtsextremen gerettet werden muss.

Die unterschiedlich ausgeprägte Mobilisierung rührt wohl von den grundlegend ungleichen Stimmungslagen her. Im Gegensatz zu den Rechtspopulisten, die den Wind in ihren Segeln spüren, sind viele Progressive desillusioniert von der Arbeit ihrer nationalen Regierungen, ausgelaugt von den zahlreichen Krisen und glauben vielleicht sogar, dass ein Rechtsruck unvermeidlich ist.

Bezeichnenderweise herrscht selbst bei den Themen Wohlstand und Sicherheit, die seit dem Ende des Kalten Kriegs das Fundament der liberalen Demokratie bilden, unter den Wählern eine zunehmende Negativstimmung. Im Endeffekt wird dies eher EU-Gegnern und ihren Forderungen nach Veränderung zugutekommen, als dass es die Bevölkerung zur Mitte hin mobilisiert.

Polen bildet eine schlagkräftige Ausnahme

Ein Land bildet hier jedoch eine schlagkräftige Ausnahme: Polen. Die Wähler aus dem Umfeld der von Donald Tusk geführten Bürgerkoalition (KO) sind vor der Wahl im Juni deutlich stärker mobilisiert als die ihrer antieuropäischen Kontrahenten, der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). 73 Prozent der Wähler der KO – gegenüber 61 Prozent der PiS-Wähler – sagen laut unserer Umfrage, dass sie bei der Europawahl „auf jeden Fall“ abstimmen werden.

Im Vorfeld der Parlamentswahlen im Oktober vergangenen Jahres hat die KO sich sehr bemüht, die progressiven Wähler davon zu überzeugen, dass eine Abwahl der PiS möglich ist. Diese positive Vision hat die Wahlberechtigten zum Aktivwerden animiert, und so haben sie bei der Wahl den Wandel ermöglicht.

Als ein Land, in dem Europabefürworter im Aufwind sind, stellt Polen in Europa zwar einen Sonderfall dar, doch bietet dieser Wandel wertvolle Einsicht in die Bedeutung von Wählervertrauen.

Klare und greifbare Vision schaffen

In der Vergangenheit führte eine zunehmende Annäherung politischer Strategien und Narrative des europäischen „Mainstreams“ dazu, dass zuvor marginale oder noch gar nicht existierende antieuropäische Parteien sich als die einzigen authentischen Alternativen im Land profilieren konnten. Je besser es Letzteren gelang, neue Wählergruppen anzuziehen, desto mehr scheinen sie bei den Progressiven ein Gefühl der Ohnmacht auszulösen. Für EU-Befürworter besteht heute die größte Herausforderung darin, diese Stimmung zu drehen.

Die proeuropäischen Wähler zu verängstigen, indem man die Vision eines Lebens unter der ex­tre­men Rechten heraufbeschwört, mag den EU-Befürwortern in einigen Ländern – etwa in Deutschland und Spanien – helfen, wird aber nicht ausreichen, um die Apathie zu durchbrechen. Mit jeder Wahl wird Angst als Wahlkampfthema wackliger.

Um ihre Wählerschaft zu mobilisieren, müssen die Pro-Europa-Parteien vielmehr mit einer klaren und greifbaren Vision von einem starken und geeinten Europa begeistern. Sie müssen ein neues Vertrauen in die Institutionen und die liberale Demokratie wecken – und zugleich überzeugend darlegen, warum diese Wahlen für die Zukunft ihrer Wähler eine Rolle spielen. Gelingt ihnen dies im Juni, können sie dazu beitragen, einen Teil der düsteren Stimmung nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten und der Ukraine zu vertreiben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • Die CDU will die Brandmauer in Europa einreißen und sich den Rechtsradikalen öffnen, wie der Artikel im Tagesspiegel es berichtet.



    Ich hoffe, dass bald die taz dem nachgeht und die Hintergründe offenlegt. Hierzu muss dringend Aufklärung betrieben werden. Die Grünen sollten sich dem Lager der EVP nicht anschließen. Wenn man sich bspw. der Faschisten in Italien und PiS öffnen will, dann will wohl die CDU mittelfristig auch mit der AfD kuscheln.



    www.tagesspiegel.d...ssen-11598227.html

  • Es wäre gut, wenn die proeuropäischen Parteien hierzulande, sowohl die der Ampel als auch die der Opposition, endlich begreifen würden, dass ihr gegenseitige Kampf - mehr um Ihren eigenen Profilierungs Willen als um die immer wachsenden globalen Probleme dieser Zeit - die Rechten hierzulande und folglich auch in Europa mehr stärken würde.

  • Als Anhänger der EU empfinde ich das Verhalten der EU Parlamentarier als eines der größten Probleme. Immer öfter werden Gesetzgebungsvorhaben eingebracht, obwohl die EU schlichtweg nicht zuständig ist. Ganz so als gäbe es die Vereinigten Staaten von Europa bereits. Bestes Beispiel ist das jüngste Vorhaben der EU-Grünen zum sogenannten Reditedeckel. Die EU ist keine Sozialunion.

    Als EU-Befürworter werden landläufig auch nur Personen bezeichnet, die eine Vertiefung der EU verlangen. Insoweit treten nur die Lager der "EU Gegner" und die "EU-Vertiefer" auf. Ich bin für einen Status Quo mit einem stärkeren Bewusstsein, wofür die EU überhaupt zuständig ist und wofür nicht.

  • So lange Ursula von der Leyen im Amt ist, in meinen Augen moralisch verwerflich und auf dubioseste Art und Weise zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt, so lange werde ich an keiner Europawahl mehr teilnehmen. Dies wird die erste Wahl meines Lebens an der ich nicht teilnehmen werde.

    • @Rudi Hamm:

      Nicht wählen ist keine Lösung. Denn Ursula von der Leyen hat viel schäbigeres vor um wiedergewählt zu werden. Sie möchte sich nach Rechtsaußen öffnen. Die EVP ist sowieso schon auf Bündnispartner rechts von ihr angewiesen und will ein formales Bündnis mit PiS und Meloni. Sich der Wahl nicht zu stellen bedeutet, dass die CDU /EVP-Fraktion die Brandmauer einreißt. Heute Europa, morgen dann Deutschland. Die Autokraten in Europa und Deutschland sind in Feierstimmung. Wenn wir aufwachen, könnte es bereits zu spät sein.

    • @Rudi Hamm:

      Auch wenn ich Ihr ärgernis verstehe, ist das wirklich die richtige Reaktion?

      Formal gesprochen, war es korrekt, auch wenn es gegen vorherige Vereinbarungen geschehen ist. Das Spitzenkandidatenprinzip, mit Vorschlag durch das Parlament war als Neuerung informal eingebracht.

      • @Grauton:

        "Formal gesprochen, war es korrekt,..."



        Ja, war es. Aber bei mir kommt Moral vor formal.



        Ob meine Entscheidung richtig ist? Weiß ich nicht, für mich fühlt sie sich richtig an, das reicht mir".

        • @Rudi Hamm:

          Dieses Jahr steht die nicht unbegründete Vermutung im Raum, daß die extrem rechten Parteien so hoch wie nie im EU Parlament abschneiden.



          Wollen Sie das?

          • @Grauton:

            Sagen wir mal so: Mir ist klar, dass meine fehlende Stimme für eine Partei der Mitte zu Gunsten einer Randpartei gehen kann. Auf "Wählen sie ja A oder B, sonst wird C zu stark" gebe ich nichts.



            Die Parteien hatten 5 Jahre Zeit eine EU-Politik vorzuschlagen die ich akzeptieren kann. Und dieses "Wähle A, damit B nicht" hat schon was von Erpressung.



            Die Parteien sollen sich um mich als Wähler kümmern, wenn sie meine Stimme wollen.

            Aber Danke dass sie daran arbeiten mich zu überzeugen, ein guter und demokratischer Zug von Ihnen, Respekt.



            Bestenfalls gehe ich zur Wahl und machen ein UNZUFRIEDEN/UNGÜLTIG auf den Stimmzettel. Dann haben sie Anteil daran gehabt.

            • @Rudi Hamm:

              Vielen Dank für Ihre freundliche Antwort. Ich frage mich ja auch immer, warum man nicht einfach direkt über Sachthemen abstimmen kann, sondern diesen 'Umweg' über die Parteien gehen muß, was ja immer diese Gefühl zurücklässt, daß man eigentlich nie bekommt was man wollte. Also ganz anders als beim Einkaufen in unserer schönen buten Warenwelt, wo ich ja heutzutage oft bis ins letzte Detail entscheiden kann was ich will und oft dann sogar auch bekomme, bis ich dann festgestellt habe, daß man innerhalb einer Partei ja sogar abstimmen kann über Sachthemen und Personen. Daher bin ich seit ein paar Jahren Mitglied einer Partei. Demoktratie braucht halt irgendwie dann doch etwas mehr Einsatz als Einkaufen. Aber das ist es mir wert. LG