Vokabeln aus der Restaurantkritik: Präzise, präziser, am präzisesten
Schmeckt der Kritiker wirklich, ob der Spargel exakt 3.000 Sekunden in 87,5 Grad heißem Wasser gezogen ist? So oder so: „Präzise“ ist keine Geschmacksrichtung.
E ines kann ich mit Genauigkeit sagen: Kochen ist nur ganz selten ein präzises Geschäft. Dennoch begegnet mir zurzeit regelmäßig dieses Attribut, vor allem in Gourmetzeitschriften. Ich frage mich, was bitte Restaurantkritiker:innen im Mund gehabt haben, wenn sie schreiben: „Der Teller war extrem präzise zubereitet.“ Ja, auch das noch. Präzision ist für diese Schreiber:innen steigerungsfähig, also kommen Gerichte oft „überaus“, „absolut“ und schlimmstenfalls „präzisest“ daher.
Es gibt natürlich Kochdisziplinen, die nach Genauigkeit verlangen. Deswegen benutzen Köch:innen Waagen und Thermometer. Man macht sich beim Zubereiten ja immer wieder das Wissen um Physikalische und chemische Prozesse zunutze, da kommt es auf Gewichtsverhältnisse und Temperaturen schon an, nur: Es ist selten entscheidend, diese Variablen auf zwei Stellen hinter dem Komma einzustellen.
Zwar habe ich auch eine Briefwaage in der Schublade, die ich regelmäßig raushole für Rezepte mit Kleinstmengen von Hefe, Salz oder einzelnen Gewürzen. Doch selbst wenn heutzutage Molekularküche-Techniken, die einem oft wie Laborverfahren vorkommen, aus der Hochgastronomie nicht mehr wegzudenken sind: Schmeckt der Restauranttester wirklich, ob in dem Tupfen Rote-Bete-Gel das richtige Mikrogramm-Maß an Xanthan, ein Verdickungsmittel, drin ist? Oder der vakuumierte Spargel exakt 3.000 Sekunden im 87,5 Grad heißen Wasserbad gar gezogen ist? Das bezweifle ich.
Stimmig, subtil, in den Texturen vielfältig
Am ehesten passt das Wörtchen „präzise“ für meine Begriffe, wenn die Pasta auf dem Teller al dente oder das Stück Fleisch auf den Punkt medium gebraten ist. Aber auch davon kann man unterschiedliche Vorstellungen haben, und vielleicht war es nur Zufall, dass die Küche beim Fleisch genau den Rosagrad getroffen hat, der mir am liebsten ist.
Daher: Präzise kann ein Gericht selten schmecken. Stimmig, subtil, in den Texturen vielfältig dagegen schon. Ich fürchte inzwischen, die Tester verwechseln da eher, was sie vor Augen haben, mit dem, was ihnen auf der Zunge liegt. Im Gourmetbereich wird das Zuschneiden der Zutaten, vom kleinsten Karottenwürfel bis zum großen Bratenstück, meist zur Präzisionsarbeit gemacht und die einzelnen Komponenten anschließend mit der Pinzette auf dem Teller arrangiert. Ist „präzise zubereitet“ vielleicht nur ein ironischer Seitenhieb auf so virtuos angerichtete Gerichte, die man kaum mit der Gabel anrühren will?
Ich glaube nicht. Inzwischen begegnet mir die Bewertung auch in der Weinsprache – wenn beispielsweise in einem Silvaner „präzise“ Mineralik erkannt wird, oder Säure oder Winzerhandwerk. Ich rätsele weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen