: Die Privatisierung des deutschen Sozialstaates
EXISTENZ Der Abbau der Sozialversicherungssysteme ist ein Fehler: Es profitieren einzig die Konzerne
BERLIN taz | Dass der Privatpatient schneller als der Kassenpatient den Weg ins Behandlungszimmer seines Arztes findet, ist schon fast eine Selbstverständlichkeit. Das ist nur ein Beispiel, das zeigt: Die soziale Sicherung in Deutschland entwickelt sich immer mehr zur Privatsache. Bismarck legte 1884 den Grundstein eines staatlich gewährleisteten Sicherungssystems, das bin in die bin 1980ziger Jahre wuchs. Doch seit den 90er Jahren baut die Bundesregierung stetig die staatlichen Sicherungen. Zudem findet eine Umschichtung in den privaten Versicherungszweig statt. Gravierenstes Beispiel für diese Entwicklung ist die Riester-Rente.
Die Folge dieser Politik sind Ökonomisierung sowie die Privatisierung des Sozialen. Eine sichere Existenzgrundlage im Alter gibt es nur noch, wenn zusätzlich geriestert wird. Hartz IV aber wird oft aufgrund der Schikanen durch die Angestellten im Job-Center gar nicht mehr beantragt, lieber sucht man Hilfe innerhalb der Familie.
Diese Entwicklungen stellt das Überleben in Krisenzeiten auf eine neue Ebene. Die Politik verweist auf mehr Selbstverantwortung und fordert Eigeninitiative. Auf den ersten Blick sind die Ideen von steigender privater Verantwortung für das eigene Leben durchaus nachvollziehbar. Sie passen sehr gut in unsere Vorstellungen vom individualisierten Leben in einer postmodernen Gesellschaft. Der zweite Blick lässt jedoch erkennen: Die Politik verabschiedet sich immer mehr vom Sozialstaatsgedanken und verschiebt die monetäre Absicherung in den privaten Sektor, den sie paradoxer Weise gleichzeitig mit Staatsgeldern subventioniert. Doch nicht nur die Finanzmärkte sondern auch auch die Anerkennung des Sozialen stehen mehr denn je auf dem Prüfstein. Denn auch der solidarische Gedanke, dass es für bestimmte in einer Gesellschaft auftretende Risiken wie Armut und Arbeitslosigkeit eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung gibt, rückt rückt durch das Zurückdrängen in der Verantwortung in den privaten Sektor immer stärker in den Hintergrund. Die Beseitigung der Risiken wird der Allgemeinheit übertragen. Dies ist sehr sinnvoll, denn gerade Arbeitslosigkeit liegt meist nicht an der Unfähigkeit eines Einzelnen, sondern in den Strukturen des Arbeitsmarktes einer Gesellschaft begründet.
Das Zurückdrängen jeglicher Verantwortung in den privaten Bereich bringt jedoch schwerwiegende Folgen mit sich: Gemeinwohlorientierung sowie gesellschaftliche Solidarität werden geschwächt, wohingegen sich egoistische Tendenzen verstärken. Wir sollten uns darüber klar werden, ob wir diese Ökonomisierung und Privatisierung des Sozialen weiter verfolgen möchten oder ob wir uns in der Gesellschaft in der wir leben, solidarisches und gemeinwohlorientiertes Handeln und Miteinander wünschen.
Meinung + Diskussion SEITE 12
■Natalie Pavlovic, 28, Wissenschaftliche Mitarbeiterin aus Stuttgart, taz-Genossin seit November 20011
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen