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Kurzer Abschied nach Sibirien

Das Urteil ist nicht das Ende im Fall Chodorkowski. Die Staatsanwälte haben schon neue Vorwürfe auf Lager. Seine Verteidiger wollen in Revision gehen

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Neun Jahre Lagerhaft: So lautet das Urteil gegen Michail Chodorkowski und seinen Mitangeklagten Platon Lebedew. Damit endete gestern vorläufig der Prozess gegen den ehemaligen Yukos-Chef, der wegen Betrugs und Steuerhinterziehung vor dem Moskauer Meschtschanski-Gericht angeklagt war – und endgültig eine Urteilsverlesung, die sich über zwölf Prozesstage und insgesamt über zwei Wochen hingeschleppt hatte. Das Gericht hatte die Angeklagten bereits am ersten Tag in sechs von sieben Punkten der Anklage für schuldig befunden. Mit Spannung wurde nur noch erwartet, wie hoch das Strafmaß für den einst reichsten Oligarchen Russlands ausfallen werde.

Mit neun Jahren Haftstrafe blieb das Gericht nur ein Jahr unter dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Höchststrafe. Nach Abzug der Untersuchungshaft müssen Chodorkowski und Lebedew siebeneinhalb Jahre in einem Lager absitzen.

Die russischen und ausländischen Anwälte Chodorkowskis haben unterdessen angekündigt, in Revision zu gehen, wenn nötig auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen. Dass eine höhere Instanz bis dahin ein milderes Strafmaß fällen könnte, halten Prozessbeobachter zurzeit für unwahrscheinlich.

In der Darstellung des Kreml wurde mit dem Yukos-Chef ein Oligarch zur Rechenschaft gezogen, der sich in der wilden Privatisierungsphase der russischen Staatswirtschaft in den 90er-Jahren auf betrügerische Weise ein Riesenvermögen zusammengeraubt hatte. Das entspricht der Wahrheit. Nur gab es zahlreiche Räuberbarone, die es dem Ölmagnaten gleichtaten und bei den Beutezügen von Staatsdienern noch unterstützt wurden. Dass Chodorkowski als Einziger zur Rechenschaft gezogen wird, hat einen politischen Hintergrund.

Der Yukos-Chef hatte eigene Ambitionen auf das Präsidentenamt angekündigt und Kremlchef Wladimir Putin im Februar 2003 vorgehalten, nichts gegen die Korruption seiner engsten Vertrauten zu unternehmen. Das und die Förderung von Institutionen der Zivilgesellschaft und oppositioneller Parteien durch den Konzernchef hatte der Kreml als offene Kriegserklärung gewertet. Fünf Monate später wurde Platon Lebedew, acht Monate nach dem Treffen mit Wladimir Putin Chodorkowski verhaftet. Trotz der Kritik internationaler Organisationen, des Europaparlaments und von Menschenrechtsgruppen an dem Verfahren ließ sich der Kreml nicht von dem Vorhaben abbringen. Wladislaw Surkow, der Vizechef der Kreml-Administration, gestand sogar ein, dass der Prozess anderen Oligarchen eine Warnung sein solle.

Unabhängige Juristen nannten das Urteil eine Farce, da die Anklagepunkte vom Gericht nur in den wenigsten Fällen bewiesen werden konnten. Überdies folgten die Richter im Urteil fast wortwörtlich der Anklage der Staatsanwaltschaft. Nach Aussagen des früheren liberalen Wirtschaftsministers, Jewgeni Jassin, sind auch die Nachforderungen der Steuerbehörden weit überhöht.

Die Generalstaatsanwaltschaft äußerte sich gestern zufrieden über die Höhe des Strafmaßes: Es entspreche der Schwere des Verbrechens, sagte die Sprecherin Natalja Weschnjakowa. Gleichzeitig kündigte die Strafverfolgungsbehörde eine neue Klage gegen Chodorkowski wegen Geldwäscherei an.

Das deutet darauf hin, dass der Kreml den Konkurrenten sehr ernst nimmt. Der Präsident gibt sich nicht mit einer langen Haftstrafe zufrieden. Der Gegner soll entwürdigt und langsam vernichtet werden. Das hat in Russland Tradition nach dem Motto „Verurteilte dürfen nicht zu schnell sterben“.

Als politischer Akteur wird Chodorkowski kaum noch eine wichtige Rolle wahrnehmen können. Nur wenige Häftlinge haben Verbannung nach Sibirien und mehrjährige Lagerhaft unbeschadet überstanden. Als positiver Held, der Mut und Zivilcourage bewiesen hat, gilt er bereits heute vielen jungen Leuten. „Vielleicht ist dies die Geburtsstunde einer neuen samtenen Revolution“, meinte der Menschenrechtler Lew Ponomarew. Wenn nicht, verwandele sich das System in eine blutige Diktatur.

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